Vinyl Klassiker: The Notwist - Neon Golden

Vinyl Klassiker: The Notwist – Neon Golden

Habt ihr euch schon mal im Ausland mit Menschen über Musik unterhalten? Im speziellen über Bands und Musiker*innen aus Deutschland? In der Regel ist der Horizont des Gegenübers hier eher begrenzt – zumindest meiner bescheidenen Erfahrung nach. Namen, die eigentlich immer genannt werden sind Rammstein und die Scorpions. Wind Of Change und so. Hin und wieder fällt der Name Kraftwerk. In Osteuropa vielleicht noch Modern Talking. Das war es dann auch. Oft verbunden mit der Frage, ob David Hasselhoff in Deutschland tatsächlich ein Popstar ist.

Bei musikaffinen Menschen, deren Hörgewohnheiten über die Grenzen der lokalen Radiostation hinausgehen, kommt dagegen oft eine Band zur Sprache, die sich bislang trotz mehr als 30jährigem Bestehen nicht durch hohe Chartspositionen oder internationale Tophits hervor getan hat. Eine Band aus dem beschaulichen Weilheim in Oberbayern. Ihr Name: The Notwist.

The Notwist mit erstaunlicher musikalischer Entwicklung

Ihr Opus Magnum hat die Band 2002 mit Album Nummer 5 abgeliefert. Heute gilt „Neon Golden“ längst als moderner Klassiker. Und womit? Mit Recht! Dabei haben The Notwist im ersten Jahrzehnt ihres Banddaseins eine erstaunliche musikalische Entwicklung hingelegt. Auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum klingen die Weilheimer wie eine klassische Hardcore-Punkband. Nicht umsonst gingen sie damals unter anderem mit Bad Religion auf Tour. Heute eine schwer vorstellbare Kombination. Auch auf dem Zweitwerk „Nook“ dominieren die Gitarrenwände – untermalt von der unverkennbar zerbrechlichen Stimme von Markus Acher. Das Album hat die Band damals ins Vorprogramm von Fugazi gespielt. Das wäre mal eine Kombination für die ich heute einiges an Geld investieren würde. Meine Güte. Bei „Nook“ wird es übrigens dringend Zeit für ein Reissue auf Vinyl. Seit den 1990ern ist das Album nicht mehr neu auflegt worden!

Mit dem dritten Album „12“ wurde 1995 ein erster Stilbruch angedeutet. Gitarren wurden hier erstmals mit elektronischen Elementen und Soundschnipseln vermengt. Oft arten die Songs auch in postrockigen Episoden aus. Aus heutiger Perspektive erinnert mich das Album stark an Karate, die 1995 ihr eindrucksvolles Debütalbum auf Southern Records veröffentlichten (das Album wurde im Januar auf wintergrünem Vinyl wieder rausgebracht).

Electronica statt Hardcore – Stereolab statt Fugazi

Ihre Weiterführung fand diese Entwicklung auf dem vierten Album „Shrink“, der 1998 veröffentlichte Vorgänger zu „Neon Golden“. Frickelige elektronische Passagen drängen hier noch stärker in den Vordergrund und wurden teilweise gar durch Jazzelemente ergänzt. Exemplarisch hierfür steht das umwerfende „Moron“. Verbindendes Element zu den Frühzeiten war im Prinzip nur noch die Stimme von Markus Acher. Die Band gab sich zunehmend experimentell und lotete die eigenen Grenzen aus. Es überrascht daher nicht, dass die Band plötzlich mit Stereolab statt Fugazi auf Tour war, was musikalisch wie die Faust aufs Auge passte.

Drei Jahre später folgte dann das umfeierte Meisterwerk. Und der endgültige Durchbruch. Einerseits mit einer Platzierung in den Top 10 der deutschen Albumcharts, andererseits in der Wahrnehmung der Musikwelt. Auf „Neon Golden“ haben The Notwist endgültig ihren eigenen Soundkosmos gefunden. Der große Unterschied zum großartigen Vorgänger ist der Wegfall des Sperrigen. „Neon Golden“ ist trotz der stilistischen Vielfalt ein melancholisches Popalbum. Mit Songs wie „Pick Up The Phone“ oder „One With The Freaks“ hat die Band plötzlich sogar kleine Hits geschrieben.

Das Album war stilprägend für das Indietronica-Genre der 2000er. In der Folge der Veröffentlichung von „Neon Golden“ gab es zahlreiche Alben, die klanglich einen ähnlichen Weg einschlugen. Exemplarisch sei an dieser Stelle „Give Up“ von The Postal Service genannt – tatsächlich zu jenem Zeitpunkt das erfolgreichste Album auf Sub Pop seit Nirvanas „Bleach“, das heute ebenfalls als moderner Klassiker gilt. Aber auch eine Band wie Hot Chip erinnert mit ihrem melancholischen Elektropop (was für mich in großen Teilen auf die Stimme von Alexis Taylor zurückzuführen ist) teilweise frappierend an das Werk der Weilheimer Band.

20 Jahre und vier Alben später immer noch erfolgreich

Darf ich an dieser Stelle ehrlich sein? Nach „Neon Golden“ hat mich die Band etwas verloren. Zwar habe ich mir sowohl die beiden Nachfolger „The Devil, You + Me“ und „Close To The Glass“ auf Vinyl besorgt, aber beide haben es im Gegensatz zu den Vorgängern nicht wirklich oft auf meinen Plattenteller geschafft. Warum genau, kann ich gar nicht sagen, aber einen Zugang habe ich zu beiden Werken nie gefunden. Vielleicht hat das auch einfach mit veränderten Hörgewohnheiten zu tun, da mich Gitarrenmusik eben weit mehr interessiert als elektronisches Gefrickel. Mit den letzten Alben habe ich mich zugegebenermaßen gar nicht mehr wirklich beschäftigt.

Nachdem ich für diesen Artikel wieder in den Weilheimer Soundkosmos eingetaucht bin, werde ich das eventuell nachholen. Immerhin wurde ihr aktuelles Werk „Vertigo Days“ von der Kritik gefeiert und auch im Dodo Beach waren viele Kund*innen von dem Werk begeistert. Das Album stieg sogar auf Platz 5 der deutschen Albumcharts ein. Wie passend, dass am Freitag ein Reissue auf gelbem Doppelvinyl erschienen ist. Vielleicht die passende Möglichkeit, mich noch einmal näher mit dem Album auseinanderzusetzen.

Unabhängig davon sind The Notwist ohne Zweifel eine der wichtigsten und stilprägendsten deutschen Bands. Besonders „Shrink“ und „Neon Golden“ beeindrucken auch mehr als 20 Jahre nach Veröffentlichung durch ihren unverkennbar einzigartigen Sound.

„Lichter“ – ein Musik- und Filmtipp

Bereits vor der Veröffentlichung von „Neon Golden“ waren The Notwist an zwei Soundtracks zu deutschen Filmen beteiligt. Zum einen die Bestseller-Verfilmung von „Crazy“, der 2000 in den hiesigen Kinos zu den erfolgreichsten Produktionen zählte, und „Absolute Giganten“, der immer noch einer der tollsten deutschen Filme überhaupt ist, wenn ihr mich fragt. Nicht minder toll ist der leider viel zu unbekannte Film „Lichter“ von Hans-Christian Schmid. Zu diesem Film steuerten The Notwist den Soundtrack bei, der die melancholische Grundstimmung perfekt einfängt. Auf Vinyl wurde dieser als 12″ EP mit vier Tracks veröffentlicht.

Die Handlung des Films: es handelt sich um verschiedene, nicht miteinander verknüpfte Episoden. Im Mittelpunkt stehen Figuren und Schicksale rund um den Grenzübergang zwischen Frankfurt (Oder) und dem polnischen Slubice. Es geht um Existenzängste, alltägliche Sorgen und natürlich Flucht – also um knapp 20 Jahre später immer noch hoch aktuelle Themen. Falls ihr den Film noch nicht kennt, kann ich euch diesen nur wärmstens ans Herz legen (hier geht’s zum Trailer).

Aktuelles Vinyl Reissue von „Neon Golden“

City Slang hat die Veröffentlichung einer Neuauflage von „Neon Golden“ für den 24. März 2023 angekündigt. In Deutschland ist das Reissue bislang nur im labeleigenen Shop gelistet, vom Vertrieb ist aber bereits angekündigt worden, dass der Release hierzulande zur Veröffentlichung ebenfalls in den Plattenläden stehen wird. Aktuelle Anmerkung: mittlerweile ist das Reissue bei einigen Onlineshops für Vinyl gelistet. Fragt also einfach beim Dealer eures Vertrauens nach der Scheibe!

Das Reissue erscheint auf translucent blue Vinyl. Warum blaues Vinyl leuchtet mir nicht wirklich ein, wenn ich ehrlich bin. Angesichts des bekannten roten Coverartworks wäre die Vinylfarbe eigentlich nahe liegend gewesen. Ich verstehe immer nicht, warum Farben für das Vinyl gewählt werden, die dem Cover komplett entgegen stehen. Aber vielleicht war rot im Presswerk grad aufgebraucht, wer weiß das schon. Fakt ist natürlich, dass letztlich die Musik das Wichtigste ist. Mit der Wiederveröffentlichung hat jeder Fan die Möglichkeit, diesen Vinyl Klassiker endlich in seine Plattensammlung aufzunehmen, sofern dies nicht schon längst geschehen ist.

VINYL CLASSICS

The Notwist – Neon Golden

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