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Das „White Album“ als kulturelles Artefakt – ein Experiment von Rutherford Chang

The White Album Rutherford Chang
In meiner Plattensammlung gibt es eine einzige Platte, die ich doppelt besitze: „Sticky Fingers“ von den Stones – einmal mit und einmal ohne den Reißverschluß. Einige Exemplare besitze ich noch ein zweites Mal auf CD oder Kassette, aber in doppelter Ausführung auf Vinyl sonst keine.
Rutherford Chang kann darüber vermutlich nur müde lächeln. Er ist ein Plattensammler der besonderen Art. Während sich die Plattensammlung der meisten Vinylliebhaber über mehrere Bands, Genres und Jahrzehnte erstreckt, sammelt Chang nahezu ausschließlich Exemplare vom „White Album“ der Beatles – in der Erstpressung wohlgemerkt! Sein erstes Exemplar hat er bei einem Garagenverkauf für einen Dollar erstanden, als er 15 Jahre alt war. Mittlerweile hat er mehr als 800 Erstpressungen des Albums gesammelt. Chang sammelt sie allerdings nicht in ihrer Funktion als Schallplatten, sondern als „kulturelle Artefakte“.
Die Erstpressung des Albums ist 1968 erschienen und umfasste eine Auflage von knapp drei Millionen Exemplaren. Im Gegensatz zum überfrachteten Cover des Vorgängers „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ waren Vorder- und Rückseite des „White Album“ schlicht in Weiß gehalten. Lediglich der Name der Band und eine Seriennummer waren eingeprägt, die den Anschein erwecken sollte, dass es sich um eine limitierte Auflage handelt.
In jenem Moment also, in dem die Alben vor 45 Jahren vom Band liefen, sahen sie alle gleich aus. Ein Zustand, der sich mit den Jahren ändern sollte. Jedes Album erzählt seine eigene Geschichte und trägt die Spuren seiner Besitzer in bzw. auf sich. Viele Albencover wurden als Notizblock „missbraucht“, mit Liebesbekundungen und Zeichnungen verziert oder weisen Gebrauchsspuren wie Kaffeeflecken, Kratzer und Einrisse auf. „The covers have certainly been well loved/abused! The white canvases have been personalized with everything from scribbled names to elaborate painting„, sagt Chang in einem Interview mit Dust & Grooves. Kein Exemplar ist wie das andere!

Seit Februar dieses Jahres gab es die Sammlung von Rutherford Chang in einer Ausstellung in der Recess Gallery im New Yorker Stadteil Soho zu sehen. Ziel des Künstlers war es, den einzigartigen Verfall von massenproduzierten Gegenständen darzustellen. Zu diesem Zweck wurde die Ausstellung wie ein Plattenladen aufgebaut, in dem einzig und allein das White Album verkauft wird. Das Besondere daran: Rutherford Chang verkaufte die ausgestellten Schallplatten nicht etwa, sondern versuchte seine Sammlung stetig zu erweitern. Jeder Besucher konnte sein eigenes Exemplar des Albums mitbringen und an Rutherford Chang verkaufen – vollkommen unabhängig vom Zustand der Schallplatte.

Eine Doppelvinyl aus einhundert White Albums

Während der Besucher gemütlich durch die Schallplattensammlung stöbern konnte, die fein säuberlich nach der Seriennummer geordnet war, tönte das „White Album“ im Hintergrund aus den Lautsprechern. Natürlich wurden lediglich Exemplare aus der umfangreichen Sammlung von Chang abgespielt, inklusive sämtlicher Kratzer und Soundunreinheiten. Jedes Album, das im Rahmen der Ausstellung abgespielt worden ist, wurde vom Künstler in digitaler Form aufgenommen und mitsamt Gatefold Cover und Plattenlabel dokumentiert.
Von Beginn der Ausstellung verfolgte Chang das Vorhaben, aus diesen Aufnahmen eine Doppelvinyl entstehen zu lassen, für die die Aufnahmen aller abgespielten Alben übereinander gelegt werden. „It will be like playing a few hundred copies of the White Album at once, each scratched and warped in its own way„, so Rutherford Chang über sein Experiment. The Vinyl Factory schreibt über die Aufnahme: „At the clearer end you’ve got ‘Back In The USSR’ which sounds like it’s being played from a fishtank on a Dansette Junior, while at the other ‘While My Guitar Gently Weeps’ has deconstructed itself into an industrial noise dirge of static feedback and distortion.
Auf Soundcloud könnt ihr euch anhören, wie die erste Seite des White Albums klingt, nachdem sie einhundertmal übereinander gelegt worden ist. Die Kommentare der Nutzer reichen von „seriously intense“ über „Lennon would love this“ bis hin zu „pointless exercise“. Sagen wir so: Für Sammler ist das Ganze mit Sicherheit eine spannende Angelegenheit, die audiophilen Vertreter unter euch sollten es mit Vorsicht genießen!

20 Dollar für ein einzigartiges Exemplar

In der vergangenen Woche berichtete Sly Vinyl davon, dass es das Album jetzt tatsächlich zu kaufen gibt. Für 20 US-Dollar erhält der Vinylliebhaber eine Doppelvinyl mit 96 Minuten Spielzeit: „Created by layering 100 unique copies of The Beatles‘ White Album, this 96 minute double-LP captures how every copy of the iconic album has been distinctly shaped by its history, both visually and sonically. The 45 year-old albums, with scratches and physical imperfections accumulated with age, all play slightly differently, causing the 100 layers to gradually drift out of sync over the course of each side.“ Dazu gibt es ein Poster, auf dem die Cover sämtlicher verwendeter Exemplare abgebildet sind. Entgegen erster Angaben handelt es sich im Übrigen nicht um eine streng limitierte Pressung.
Während auf Sly Vinyl einige Käufer bereits davon berichten, dass sie es kaum erwarten können, ihr Exemplar in den Händen zu halten, ist der Verkaufsbutton vor einigen Tagen (während des Verfassens dieses Artikels) leider plötzlich von der Webseite verschwunden, ohne dass ein Grund dafür angegeben wurde. Es werden Urheberrechtsprobleme vermutet, denn ohne die Einwillung des Rechteinhabers dürfte es schwierig sein, das Experiment auf legale Weise zu verkaufen. Trotzdem halte ich das Experiment für spannend genug, um an dieser Stelle darüber zu berichten. Sollte das Album in naher Zukunft wieder online verfügbar sein, werde ich euch natürlich sofort Bescheid geben. Denn ich vermute, dass es auch unter den Lesern dieses Blogs den ein oder anderen Interessenten für diese eigenwillige Interpretation des White Albums geben wird.

Denjenigen, die sich näher für den Künstler und das Projekt interessieren, empfehle ich den Artikel von Dust & Grooves, der bereits im Februar erschienen ist, und nicht nur eine Menge Fotos, sondern auch ein spannendes Interview mit Rutherford Chang umfasst. Bei Vimeo gibt es darüber hinaus noch ein interessantes Video mit Einblicken in die Ausstellung, das sich aufgrund der Privatsphäre-Einstellungen an dieser Stelle leider nicht einbetten lässt.

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