Vinyl des Monats Oktober: Pearl Jam – Lightning Bolt

Vinyl des Monats Oktober: Pearl Jam Lightning Bolt
Die Vinyl des vergangenen Monats ist kein spektakuläres Boxset oder eine besonders limitierte Edition, sondern das neue Album der besten Band der Welt! Zumindest in meinen Augen. Nachdem Pearl Jam jüngst ihr 20-jähriges Bestehen gefeiert haben, steht mit „Lightning Bolt“ mittlerweile das zehnte Album in den Plattenläden. Studioalbum wohlgemerkt, denn die Anzahl an Compilations, Live-Alben, Seven Inches usw. ist kaum zu überblicken. Produziert wurde das Ganze wie gewohnt mal wieder von Brendan O´Brien.

Seit der Ankündigung des neuen Albums im Juli fieberte ich „Lightning Bolt“ entgegen. Am 11. Oktober war ich schon auf dem Weg in den Plattenladen, als ich unterwegs bei Facebook die Mitteilung lesen musste, dass die Veröffentlichung der Vinyl um zwei Wochen verschoben worden war. Großartig! Die Folge war ein Frustplattenkauf von schätzungsweise 60 Euro, darunter immerhin die wahnsinnig schicke Vinylversion von „Backspacer“, die meiner Sammlung bis dato aus unerfindlichen Gründen noch nicht angehörte. Nur das Hören der neuen Songs musste leider warten. Das neue Album wollte ich zum allerersten Mal auf Vinyl hören und nicht etwa über Spotify und Konsorten.

Zwei Wochen später war es dann endlich so weit. Und ich muss sagen, dass das Artwork mal wieder besonders schick geworden ist (siehe Galerie unten). Besonderes Gimmick ist ein Stickerset, das aus den Songemblemen und Silhouetten der Bandmitglieder besteht. Ein 20-seitiges hochwertiges Booklet mit sämtlichen Lyrics darf natürlich nicht fehlen. Und musikalisch?
Nun, ich mag „Lightning Bolt“. Sehr sogar. Nicht mehr. Nicht weniger. Pearl Jam werden sich nicht mehr neu erfinden. Haben sie auch nicht (mehr) nötig. Sie liefern auf „Lightning Bolt“ genau das ab, was sie können. Einige mögen das langweilig finden. Oder gar belanglos. Ich muss zugeben, dass sich auf dem neuen Album der ein oder andere Song findet, der auch im Radio nicht groß auffallen und den vermutlich selbst meine Eltern „total schön“ finden würden. Nicht umsonst kürte die US-amerikanische Ausgabe des Rolling Stone die Band neben Bruce Springsteen jüngst zu den „Fackelträgern des Classic Rock„. Und das war als Kompliment gemeint. Pearl Jam sind schon zu lange dabei, um sich um irgendwelche Erwartungshaltungen Gedanken zu machen. Oder gar Sorgen. Erst recht nicht um jene der Musikpresse.

Kritik im Überfluss

Dass Pearl Jam für ihr neues Album auch eine Menge Kritik einstecken werden müssen, war genauso zu erwarten wie die Lobhudeleien für das neue Album von Arcade Fire. So schreibt Pitchfork stellvertretend: „Pearl Jam ceased long ago to be a band that makes records with any sense of occasion to them: no intriguing backstory, no conceptual constructs to shape the album’s identity, no new contemporary influences that might push them in an unexpected direction. You just get another nine to 13 Pearl Jam songs.“ Dieses Mal sind es zwölf. Mit dem Rest hat der Rezensent gar nicht einmal so Unrecht. Nur sehe ich in der Umschreibung nichts per se Negatives.
Spätestens seit dem selbstbetitelten Album aus dem Jahre 2006 ist jeder Release im Prinzip gleich aufgebaut. Auch auf „Lightning Bolt“ eröffnen drei Songs zu Beginn mit der vollen Rockbreitseite: Dem Opener folgt das wütende, mit Punk-Attitüde ausgestattete „Mind Your Manners“, während Eddie Vedder in „My Father´s Son“ dem eigenen Vater wütend und enttäuscht seinen Hass entgegen singt, der sich seit „Alive“ und „Jeremy“ auf dem Debütalbum durch die Bandgeschichte zieht. „I come from a genius, I am my father’s son. Yeah, too bad he was a psychopath and now I’m the next in line. (…) Can I get a reprieve? This gene pool don’t hurt me. Can I beg a release from the volunteer amputee? From the moment I fell, I called on DNA. Why such betrayal?“ heißt es dort eindringlich. Danach folgt mit „Sirens“ der übliche Bruch. Pearl Jam waren schon immer so etwas wie die Hymnenschreiber des Grunge. Was „Black“ auf dem Debütalbum war oder „Just Breathe“ auf „Backspacer“, ist „Sirens“ auf dem aktuellen Longplayer. Ich muss an dieser Stelle doch tatsächlich einmal einem Satz aus der FAZ zustimmen: „Der beste Anfang eines Pearl-Jam-Albums seit langem.
Trotzdem stößt das Album vielfach auf Ablehnung. Das Paste Magazine spricht vom „schlechtesten Album in der Karriere der Band“ und vergibt gerade einmal 4.0 von 10.0 Punkten. Jonas Beckenkamp schreibt auf sueddeutsche.de: „Aufregendes passiert auf „Lightning Bolt“ wahrlich nicht, vielmehr verwalten Vedder & Co. ihren Status als schwermütige Stadionrocker. Nichts als ein bisschen Schmachtgedudel hier („Sleeping by myself“) und ein wenig Truckstop-Romantik da („Let the records play“). Erlösung bringt nur die Tatsache, dass nach 50 quälenden Minuten und der erschlafften Country-Nummer „Future Days“ bei den alten Herren offenbar das Viagra alle ist.“ Weiter schreibt er von „phallusträchtigem Erektionsrock“ und zieht Vergleiche zum „singenden Friseur Jon Bon Jovi„. Das geht dann doch ein ganzes Stück zu weit. „Lightning Bolt“ mag das gefälligste Album einer Band sein, die nicht wirklich jünger geworden ist. Experimente wie auf „No Code“ oder „Vs.“ sucht der Hörer hier vergebens. Trotzdem wächst das Album mit der Zeit und gibt mit jeder Umdrehung auf dem Plattenteller Melodien und Textzeilen preis, für die singende Friseure wie Jon Bon Jovi oder Chad Kroeger töten würden.
Der Unterschied liegt in der Glaubwürdigkeit, ein Begriff, den viele Musiker heutzutage erst im Brockhaus nachschlagen oder in die Suchleiste von Google eingeben müssen. Ich nehme es Eddie Vedder auch heute noch ab, wenn er Zeilen über die Missachtung durch seinen Vater schreibt, was er vor mehr als 20 Jahren als wütender Teenager bereits getan hat. Es mag sein, dass die Liebeserklärung an seine Frau im abschließenden „Future Days“ an einigen Stellen etwas pathetisch klingen mag – oder nach einer „erschlafften Country-Nummer„, wie es Jonas Beckenkamp ausdrückt. Aber es ist eben genau das, was Vedder in diesem Moment empfindet und nicht aus dem Kalkül heraus entstanden, einen radiotauglichen Lovesong zu schreiben, den sich der gelangweilte Ehemann beim Wunschkonzert auf Radio Bremen Eins für seine Frau wünscht. Und das spüre ich als Hörer in jeder einzelnen Sekunde des Songs.

If I ever were to lose you, I´d surely lose myself. Everything I have found, dear, I´ve not found by myself.

Eine kurze Liebeserklärung

Wer bis hier hin gelesen hat, wird gemerkt haben, dass ich diese Band schlicht und ergreifend liebe. Der Grund ist eigentlich gar nicht so schwer zu erklären. Ich bin mit der Band aufgewachsen. Als „Ten“ erschienen ist, war ich 12. Jetzt bin ich 34. Dazwischen lagen Pubertät, Erwachsenwerden, Schulabschluss, Studium, One-Night-Stands, Partys, Verzweiflung, Freundschaften, Liebe. Mein Leben halt. Während andere Bands auf Teufel komm raus ein Comeback versuchen oder sich auf Reuniontour begeben, um noch ein paar Dollar aus ihrem längst vergangenen Ruhm zu pressen, ist Pearl Jam immer noch da. 22 Jahre später kenne ich jedes Album dieser Band in- und auswendig, habe sie live gesehen, Bootlegs und B-Seiten gehört und es gibt zahllose Situationen in meinem Leben, die mit einem Song dieser Band verbunden sind. So viele Textzeilen, die ich mir auf den Unterarm tätowieren lassen könnte.
Das Faszinierende an der Band ist, dass man als Fan das Gefühl bekommt, dass diese Liebe erwidert wird. Wer einmal ein Livekonzert der Jungs besucht hat, wird wissen, wovon ich schreibe. Dieses ungläubige Funkeln von Dankbarkeit in den Augen von Vedder, Gossard und Co. nach so vielen Jahren, ausverkauften Hallen und riesigen Festivals ist schlicht einmalig. Und definitiv nicht gespielt. Wenn Eddie Vedder in „Love Boat Captain“ (ohnehin einer der tollsten Songs) über die Opfer des tragischen Auftritts beim Roskilde-Festival die Zeile „lost 9 friends we´ll never know, 2 years ago today“ singt, bekomme ich nicht nur eine Gänsehaut, sondern bringt es die Einstellung der Band auf den Punkt. Ihr merkt schon, ich kann diese Band nicht objektiv betrachten. Sobald die sonore Stimme von Eddie Vedder aus irgend einer Box strömt, fühle ich mich zu Hause. Das schafft niemand sonst.

Um zum Abschluss noch einmal kurz zum musikalischen Aspekt zurückzukehren: Es ist nicht so, dass ich es nicht mögen würde, wenn Bands sich mit jedem Album neu erfinden. Fakt ist aber, dass ein Großteil der Bands daran entweder vollständig scheitert, in der Zwischenzeit mehrere durchschnittliche Alben benötigt (Beispiel Arctic Monkeys) oder den Erwartungen der Plattenfirma oder wem auch immer nachgibt (Beispiel Foals oder Portugal.The Man). Pearl Jam ist in meinen Augen die verlässlichste Band, die das Musikbusiness zu bieten hat. „Lightning Bolt“ ist nicht das beste Album dieses Jahres. Es ist nicht einmal im Ansatz das beste von Pearl Jam. Und trotzdem bleiben sie für mich immer (noch) die beste Band der Welt.

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Tracklist:

1. Getaway
2. Mind your manners
3. My father’s son
4. Sirens
5. Lightning bolt
6. Infallible
7. Pendulum
8. Swallowed whole
9. Let the records play
10. Sleeping by myself
11. Yellow moon
12. Future days

Gesamtspielzeit: 47:14 Minuten

Label: Universal Music

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