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20 Jahre Tocotronic – Jubiläum mit Doppelvinyl Picture Disc

Tocotronic Vinyl und Kassette
Gehen die Leute auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam? Jedes Mal, wenn ich in der Fußgängerzone meiner Heimatstadt oder neuerdings auf den Bürgersteigen der Hauptstadt unterwegs bin und die Menschen vor mir nur so dahin schleichen, muss ich an diese Songzeile denken. Ich kann einfach nicht anders. Kein anderer Song dürfte es geschafft haben, so oft in meinem Kopf präsent zu sein wie „Gehen die Leute“ von Tocotronic. 16 Jahre ist es her, dass der Song auf „Es ist egal, aber“, dem dritten Album der Band, erschienen ist. In diesem Jahr feiert Tocotronic 20jähriges Bestehen.
Schon als sich am Samstag die Veröffentlichung von „Siamese Dream“ zum 20. Mal jährte, habe ich mich ein wenig erschrocken. Zwei Dekaden, meine Güte! Während die Smashing Pumpkins aber schon damals Millionen Alben verkauft haben, hat Tocotronic einen recht weiten Weg in höhere Chartregionen hinter sich. K.O.O.K. war 1999 das erste Album, mit dem sie es in die Top10 schafften, erst 2010 gelang es ihnen dann mit „Schall & Wahn“ die Nummer 1 der Albumcharts zu stürmen. Lieblinge der Musikkritik waren die Jungs um Sänger Dirk von Lowtzow hingegen schon immer. Die Spex kürte Tocotronic nach dem Erscheinen des Debütalbums zum besten Newcomer. Der Musikexpress setzte „Digital ist besser“ 2003 gar auf Platz 4 der besten deutschprachigen Popalben überhaupt (auf Platz 1 landeten übrigens Element of Crime mit „Weißes Papier“). Auch die Visions und der Rolling Stone nahmen es in ihre Rangliste der 150 bzw. 500 besten Alben aller Zeiten auf. Aber genug an dieser Stelle mit dem Kopieren und Einfügen von geballtem Wikipedia-Wissen.
Tocotronic waren damals – mit 15 oder 16 – anders als alles, was ich bisher an deutschsprachiger Musik gehört hatte. Klar, Ton Steine Scherben waren mir schon ein Begriff, ansonsten beschränkten sich meine Kenntnisse deutschprachiger Künstler im Großen und Ganzen auf die ZDF-Hitparade. Die Wut und das Ungestüme auf „Digital ist Besser“ und „Wir kommen um uns zu beschweren“ haben mich schlicht umgehauen. Die Verve von Songs wie „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ oder „Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“ trafen meinen Nerv damals perfekt, was zu nicht unwesentlichen Teilen auf meine pubertäre Rebellionsphase zurückzuführen sein dürfte.

Der Fluch der Weiterentwicklung

Bis einschließlich „Kapitulation“ mag ich jedes einzelne Album der Band, die Bedeutung der ersten Werke haben sie aber nie wieder erreichen können. Schon mit „K.O.O.K.“ und „Tocotronic“ hatte ich am Anfang gewisse Probleme. Plötzlich hieß es „Let there be Rock“ und „This Boy is Tocotronic“, es waren Bläser zu hören und es pluckerten elektronische Dinge im Hintergrund vor sich hin. Wohin war die unbändige Wut verschwunden? Egal, trotzdem waren das immer noch unverkennbar Tocotronic. „Pure Vernunft darf niemals siegen“ und „Kapitulation“, jene Werke also die von Moses Schneider in Berlin aufgenommen wurden, nahmen mich schon mit dem ersten Hördurchlauf gefangen. Mit den Jahren wird man ja auch durchaus ein wenig weiser und vernünftiger (kurze Anm. des Autors: hab ich das grad wirklich geschrieben!?)
Was danach passiert ist, habe ich bis heute noch nicht wirklich verstanden. Ganz ehrlich: Das Tocotronic der letzten beiden Alben ist für mich nicht mehr das Tocotronic, das ich kennen und lieben gelernt hatte. Nicht falsch verstehen, ich finde es gut, wichtig und elementar, dass sich eine Band weiter entwickelt und rechne es Tocotronic durchaus an. Immerhin steht da nicht mehr der Junge in der viel zu engen Adidas-Trainingsjacke hinter dem Mikro. Meins ist das aber nicht mehr. Intellektuell verschroben hört sich das an und in meinen Augen auch nicht mehr authentisch. Als ich „Schall & Wahn“ zum ersten Mal gehört habe, habe ich mich gefragt, wie ich denn bitte verpassen konnte, dass die Band den Sänger gewechselt hat. Hatte sie aber gar nicht. Die FAZ hat das 2010 zur Veröffentlichung von „Schall & Wahn“ treffend als „Bruch mit dem Frühwerk“ bezeichnet. Wie gesagt, Weiterentwicklung schön und gut, bei Songs wie „Bitte oszillieren sie“ habe ich mich jedoch ernsthaft gefragt, ob die Jungs ihre Hörer auf den Arm nehmen wollen. „Bitte oszillieren Sie, Zwischen den Polen Bumms und Bi (…) Bitte oszillieren Sie, Hin und her und wild wie nie.“ – hallo… Dirk, jemand zu Hause? Ich habe noch immer noch nicht verstanden, was die Band mit den letzten beiden Alben darstellen will. Dass Tocotronic damit zu Lieblingen des Feuilletons geworden sind, hingegen schon. Um noch einmal kurz aus der FAZ zu zitieren. Über „Schall & Wahn“ steht auf den Seiten des Feuilletons unter anderem folgender Satz: „Das Lied erklärt sich selbst, und zwar ausdrücklich. Durch die vorgeschaltete Benennung des Sprechers wird das, was auf den Doppelpunkt folgt, als Rollenpoesie ausgewiesen. Aber diese Aufklärung über das Gedicht durch das Gedicht wird von der Dialektik erfasst. Wenn die Bestimmung der Redesituation zum Gedicht gehört, ist dann der Dichter affiziert vom kaiserlichen Ton?“ Ich verstehe ehrlich gesagt nur Bahnhof, aber genauso klingen Tocotronic mittlerweile. Leider nicht meine Welt.
Aber genug der Kritik. Wie ihr euch denken könnt, haben weder „Schall & Wahn“ noch „Wie wir leben wollen“ den Weg in meine Vinylsammlung gefunden. Und werden das wohl auch nicht mehr. Alle anderen Alben – immerhin acht an der Zahl, wenn ich mich grad nicht vertue – lege ich immer noch gerne auf den Plattenspieler und in den Kassettenrekorder oder spiele sie in digitaler Form in iTunes oder Spotify ab.

Jubiläumsvinyl mit zahlreichen unveröffentlichen Songs

20 Jahre Tocotronic Vinyl Picture Disc

Auch wenn ich die jüngste Entwicklung der Band nicht unbedingt zu schätzen weiß, ist das 20jährige Jubiläum definitiv ein Anlass zum Feiern. Zu bedeutend sind Tocotronic für die Entwicklung von guter deutschprachiger Musik der vergangenen Jahre. Wer weiß, ob sich grandiose Künstler wie Karamel, Kante, Delbo, Klez.E oder Hans Unstern ohne den Einfluss der Hamburger je so entwickelt hätten. Ihr könnt an dieser Stelle auch gerne die prominenteren Kettcar oder Tomte als Platzhalter einsetzen. Selbst wenn Tocotronic mit ihrem nächsten Album in die Schlagerszene abdriften würden – „Digital ist besser“ und Co. sind und bleiben absolute Meilensteine deutschsprachiger Musik. Das gehört gebührend gefeiert!
Eigentlich sollte das Jubiläumsalbum bereits am letzten Freitag erscheinen, ist jetzt aber auf den 9. August verschoben worden. Das Album kommt als Picture Disc mit dem Antlitz der Bandmitglieder (siehe Foto oben). Auf den beiden Vinyl befinden sich 20 Tracks, die bislang allesamt unveröffentlicht und dementsprechend rar sind. Darunter befinden sich eine Menge Liveaufnahmen, aber auch Aufnahmen aus dem Hamburger Proberaum der Band von 1993 und 94 – also noch vor der Veröffentlichung von „Digital ist Besser“. Für Liebhaber der Hamburger Jungs sollte die Doppelvinyl Picture Disc also absolute Pflicht sein. Auf der Webseite der Band könnt ihr die Jubiläumsedition bereits vorbestellen – und zwar zum reduzierten Pre-Order-Preis. Also schnell zugreifen! Ich werde es jedenfalls tun…

Tracklist:

Seite A
Jungs, hier kommt der Masterplan – Live, Frequency-Festival, 16.8.2012
Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht Bereit – SAE Studio, Hamburg, Mai 1994
Drüber auf dem Hügel – Proberaum, 22.2.1994
Was wird aus all den gebrochenen Herzen – Proberaum, 22.2.1994
An diesen langweiligen Tagen – Proberaum, Sommer 1993
Der Cousin – Proberaum, Sommer 1993
Hamburg Rockt – Live in Hamburg, Kir, 7.6.1994

Seite B
Freiburg – Live in Freiburg, KTS-Kaserne, 21.7.1995
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein – Live in Amsterdam, Village Radio, 26.1.1995
Du bist immer für mich da – Live in Hamburg, Große Freiheit 36, 7.11.1997
Die letzte Adresse – Proberaum-Demo, 1998
Um die Ecke (gedacht) – Live in München, Volkstheater, 1.6.1999
Das Unglück muss zurückgeschlagen werden – Live in Chicago, WNUR Radio, 15.3.2000

Seite C
This boy is Tocotronic – Live in Köln, WDR-Sendesaal, 12.6.2002
Pure Vernunft darf niemals siegen – Lawrence-Remix, 2005
Mein Prinz – Live in Bremen, Schlachthof, 28.2.2005
Andere Ufer – Live im Wien, Radiokulturhaus, 11.12.2007

Seite D
Aus meiner Festung – Live in Berlin, Columbiahalle, 6.11.2007
Eure Liebe tötet mich – Live in Müchen, Tonhalle, 26.3.2010
Wie wir leben wollen – Live in Wien, Burgtheater, 06.2.2013

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