Wenn ich meine musikalischen Vorlieben auf ein einzelnes Genre eingrenzen müsste (eine eigentlich unlösbare Aufgabe), dann wäre dieses mit ziemlicher Sicherheit Grunge. Das soll jetzt in keiner Weise pathetisch klingen, aber Grunge hat mein Leben tatsächlich grundlegend beeinflusst. Und damit meine ich nicht nur die Ausprägung meines musikalischen Geschmacks. Sondern ganz grundlegend Musik als Lebensgefühl. Als Blitzableiter. Als emotionaler Lebensretter. Ich weiß nicht, wie ich einige Phasen meiner Pubertät überstanden hätte, wenn ich nicht in meinem Zimmer im Reihenhaus unter dem Dach meine Musik auf volle Lautstärke hätte aufdrehen können. Damals noch auf CD und nicht etwa Vinyl. Entschuldigung an dieser Stelle noch einmal an meine Eltern.
Aber zurück zum Thema, eine kurze Zeitreise ins Jahr 1991. Also jenes Jahr, in dem Nirvana mit „Nevermind“ ein Album veröffentlicht haben, das für viele die Essenz von Grunge verkörpert. Ein Album, das mit dafür verantwortlich war, dass ich mit 12 Jahren von der präpubertären Musik Abschied nahm, die ich bis dahin größtenteils auf Kassette konsumiert habe: David Hasselhoff, New Kids On The Block, Milli Vanilli. Furchtbare Kindheitsverfehlungen. Trotzdem unentschuldbar.
Here we are now, entertain us…
Ich möchte an dieser Stelle keine klassische Rezension zu „Nevermind“ verfassen. Über das Album ist seit seinem Erscheinen vermutlich alles gesagt und geschrieben worden. Ein Klassiker. Punkt. Wobei sich das wie ich finde eher auf den Einfluss des Werkes bezieht als auf seine Qualität, denn in meinen Ohren ist „Nevermind“ nicht einmal das beste Album, das Nirvana jemals veröffentlicht haben. Geschweige denn die beste Grunge-Platte. Trotzdem sind bis heute 30 Millionen Exemplare verkauft worden. Sagt zumindest Wikipedia. Ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit dieser Zahl.
Noch heute kann ich mich genau dran erinnern, wie ich damals im Wohnzimmer meiner Eltern auf dem Fußboden vor dem Fernseher saß (weder an ein eigenes Gerät noch ans Internet war damals überhaupt zu denken) und stundenlang Musikvideos auf MTV konsumiert habe. Welcome To The Jungle, Enter Sandman, Give It Away, Losing My Religion. Und dann war da plötzlich dieses Video. Eine vernebelte Turnhalle, in der drei junge Typen auf ihre Instrumente eindreschen. Begleitet von eher apathisch wirkenden Cheerleadern. Mehrmals täglich flackerte das Video damals über den Bildschirm. Here we are now, entertain us… So etwas Rohes und Intensives hatte ich bis dahin nicht gehört. Meine Erfahrungen mit Rockmusik beschränkten sich zu dem Zeitpunkt wenn ich mich recht erinnere auf Guns N´Roses und einige Hair Metal-Songs aus den 80ern.
Meine ein Jahr ältere Nachbarin hat mir das Album damals auf CD ausgeliehen. Von diesem Moment an war es um mich geschehen. Ich habe nie wieder etwas anderes gehört als Gitarrenmusik im weitesten Sinne, ob nun Grunge, Metal, Hardcore, Postrock oder tanzbare Indiemucke. Das Besondere an „Nevermind“ war die unfassbare Intensität der Songs, die trotzdem derart eingängig waren, dass sie auch Jahrzehnte später immer noch in meinen Gehörgängen haften geblieben sind. Die Lyrics spielten für mich damals keine Rolle. Wie auch, war ich doch einen Monat vor dem Release des Albums erst aufs Gymnasium gekommen, um meine ersten Worte in englisch zu lernen. Auch inhaltlich hätte ich mit Cobains Texten über Depressionen, Selbstzweifel oder Angstzustände damals nichts anfangen können. Mit 12 war die Welt noch in Ordnung.
Es ist neunzehn-einundneunzig
Verdammte Axt, was sind 1991 für unfassbar gute Alben rausgekommen, die heute allesamt als Klassiker gelten. Hier eine kleine Auswahl:
- Metallica – Metallica
- Pearl Jam – Ten
- Guns N’ Roses – Use Your Illusion I+II
- My Bloody Valentine – Loveless
- R.E.M. – Out Of Time
- Talk Talk – Laughing Stock
- Temple Of The Dog – s/t
- Mudhoney – Every Boy Deserves Good Fudge
Und dann wäre da dieser 24. September (heute vor genau 30 Jahren), an dem neben „Nevermind“ auch Soundgardens „Badmotorfinger“ und „Blood Sugar Sex Magik“ von den Red Hot Chili Peppers erschienen sind. Wow! Wie hätte ich mich da weiterhin mit uninspirierter Chartsmusik zufrieden geben sollen, die im Radio auf Heavy Rotation läuft? Natürlich würde ich lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich all diese Alben damals direkt nach Veröffentlichung gehört habe. Dafür hätte das Taschengeld hinten und vorne nicht gereicht und CD-Brenner gab es noch nicht – unglaubliche Vorstellung, oder? Einige der genannten Alben haben sich mir erst Jahre später so wirklich erschlossen. „Nevermind“ wird dabei aber für mich neben „Appetite For Destruction“ (ja, das war tatsächlich das erste Album, das ich mir 1991 von meinem eigenen Geld auf CD gekauft habe – und ich feiere es heute noch) der Startschuss für die Entwicklung eines vernünftigen Musikgeschmacks sein. Und wer weiß, wie sich mein Leben ohne diesen musikalischen Impuls entwickelt hätte. Vermutlich würde ich heute keine Platten sammeln, dieses Magazin betreiben, geschweige denn in einem Plattenladen arbeiten. Also vielen Dank an dieser Stelle an Kurt, Krist und Dave für die Inspiration!
30th Anniversary Edition auf Vinyl – auch als 8LP Box
Seit heute sollte im Plattenladen eurer Wahl die 30th Anniversary Edition von „Nevermind“ als Preorder zur Verfügung stehen (z.B. hier). Auf Vinyl stehen dabei zwei verschiedene Formate zur Auswahl. Die Einzelvinyl-Edition, die von den analogen Originalbändern neu remastered wurde, kommt in einem Premium-Tip-On-Gatefold Jacket (Releasedatum: 12.11.2021). Dazu gibt es eine 7″ von „Endless, Nameless“, auf der die B-Seiten „Even In His Youth“ und „Aneurysm“ zu hören sind.
Sollte das nicht genügen, könnt ihr euch das Album auch als Boxset besorgen, das allerdings erst im Mai 2022 veröffentlicht wird. Presswerküberlastung sei Dank. Neben dem Album auf Einzelvinyl und der 7″ enthält die Box vier Konzerte der Nevermind-Tour aus Amsterdam, Del Mar, Melbourne und Tokio. Hinzu kommt ein 40-seitiges Hardcover-Buch mit unveröffentlichen Fotos.