Der erste Gastartikel auf Vinyl Fantasy ist endlich online. Und was für einer! Christopher Ratter von Text`N`Tones, einem lesenswerten Blog für Freunde des Jazz, Hip Hop oder Funk and Soul, war eine Woche in Lissabon unterwegs. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass diese Stadt wunderschön ist. Und offensichtlich hat sie auch zahlreiche Plattenläden zu bieten, die zum Stöbern und „Crate Diggen“ einladen. Aber jetzt halte ich lieber die Klappe und überlasse Christopher und seinem tollen Artikel das Rampenlicht.
Digging Lisboa – Leitfaden zum Vinylkauf in Lissabon
Lissabon ist die Stadt des Lichts und der Seefahrer, und natürlich des Fado. Wenn über der Tejo-Mündung nur ein wenig Sonne auf die brökelnden Marmorfassaden der Stadtpalästen fällt, glänzt die ganze Stadt. Dann zitieren Touristen wieder Pessoa-Halbsätze aus ihren Reiseführern, von der schweren Seele des Portugiesen an sich, von jener „Wehmut“, besser: der saudade – und es sind gute Zeiten für die vielen Fado-Gitarristen, Sonnenbrillenverkäufer und Restaurantbetreiber oben am Miradouro da Santa Luzia über der Tejo-Mündung, wenn ein wenig Sonne auf die brökelnden Marmorfassaden der Stadtpaläste fällt. Nein, es ist wirklich sehr schön hier. Und auch der Fado ist es und die saudade ist es auch. Ich aber bin auf der Suche nach anderen Dingen. Sieben Tage bin ich durch Lissabonner Plattenläden, Flohmärkte und verrauchte Kneipen gelaufen, denn Lissabon ist nicht nur Postkartenidyll und Fadoromantik. Durch seine zweifellos problematische Kolonialgeschichte ist Lissabon auch eine der musikalisch vielfältigsten Metropolen Europas. Viele afrikanisch- oder brasilianischstämmige Musiker zieht es nach wie vor hierher. Wenn man die Augen offen hält, findet man die Verbindungen zu Angola, Mosambique und Brasilien an allen Ecken und Enden der Stadt. Sei es in der Nacht auf der Tanzfläche oder beim Diggen auf dem Flohmarkt. Hier soll es hauptsächlich um Letzteres gehen: Ein kleiner Leitfaden zum Vinylkauf in Lissabon.
1. Europa wie Paris und Berlin
Meine Suche beginnt mit einer Ernüchterung. Im bairro alto, dem herrlich verwinkelten Ausgehviertel der Stadt, finde ich in einem überteuerten Laden für Vintage-Klamotten den ersten Ständer mit Vinyl. Es ist vor allem wahrlos ungeordneter 80er Wave zu Mondpreisen. Nach kurzem Blättern landet mein Griff auf Ty’s UK-Rap Meilenstein Upwards, für den, bei einem miserablen Zustand, stolze 35€ aufgerufen werden. Der Laden ist ein erster Dämpfer, aber groß verwundert sollte man kaum sein, in einem Viertel an dem sich Bar an Bar, Hostel an Hostel reiht, durchmischt von hippen Klamotten-Boutiquen, in denen man denselben allzu üblichen Urban-Bekleidungs-Kram findet wie in Berlin Mitte. Der obere Teil des bairro alto ist gut zum Ausgehen und man findet hier schöne Hostels, wie etwa das Independent. Zum Plattenkaufen aber seid ihr hier falsch.
2. Entspannt: Das Louie Louie
Rua Nova da Trindade 8, http://www.louielouie.biz
Es geht weiter. Ich laufe die gepflasterten Gassen hinunter, über den Largo de Camões, vorbei an Marmorkirchen und Kastanienverkäufern, dann wieder links in die Rua Nova da Trinidade. Ich hab mir nicht viel Gedanken gemacht, wo und wie ich in Lissabon diggen will, sondern laufe blind drauf los durch die unzähligen Gassen. Nicht weit von den Haupteinkaufstraßen mit Zara, Benetton und H&M, stoße ich auf den ersten echten Plattenladen: Das Louie Louie beherbergt viel Rock, aber auch Jazz, Funk, Soul. Außerdem gibt es ein kleines Café mit Espresso für 50 Cent, ein paar Tische in der Ecke und zwei bequeme Ohrsessel, hinter denen sich die Turntables zum Durchhören der Platten befinden.
Schnell wird klar: Vergesst die Represses und Neuerscheinungen, die werden importiert und hier zahlt man oft 5€ mehr als in Deutschland. Interessant ist die Sammlung brasilianischer Musik. Ich finde sofort 4-5 Platten, die ich haben will. Alle zwischen 10 und 20€. Zugegeben – auch nicht wirklich billig, aber für die brasilianische Originalpressung aus den 60ern und 70ern zahlt man inzwischen deutlich mehr, wenn man keinen Cousin aus Sao Paulo unter seinen Verwandten weiß. Ich finde eine Baden Powell Platte und ein Samba Album von Elza Soares, die ich gleich mitnehme. Gerade die Baden Powell kann ich sehr empfehlen. Wunderbarer Samba und alleine das Cover ersetzt manchen Photodruck. Wenn ihr ein paar Nächte im schönen The Independent Hostel absteigt, bekommt ihr angeblich 10% bei Louie. Selber konnte ich es nicht mehr austesten, aber das Hostel wirbt zumindest mit diesem Discount.
3. Gebrauchte Perlen der 60er: Der Sound Club Store im Chiado
Rua da Misericórdia 12, http://www.lisbonrecordshops.com/2013/06/sound-club-store.html
Wenn ihr genug Zeit mitbringt, fallt ihr am besten gleich in den nächsten Plattenladen. Etwas versteckt in der Mitte eines Einkaufszentrums (dem Espaço Chiado) findet sich der Sound Club Store. Aufgeteilt in drei verschiedene Einzelläden kann man hier eine Menge interessanter Platten finden. Es ist in erster Linie gebrauchtes Vinyl in ordentlichem Zustand und leidlich gut sortiert. Ich hab’ hier vor allem nach Jazz gesucht und wäre fündig geworden. Kenner zahlen hier für Originalpressungen von Prestige bis Blue Note relativ wenig (meistens Preise ab 15-20€ aufwärts). Wer Zeit mitbringt, kann in den vielen Kisten sicher Schnäppchen machen. Es gibt etwa viel französische oder italienische 7” in großen, nach Ländern sortierten Boxen. Nicht so schön: Zum Hören muss man sich an den Verkäufer wenden, der die Platte dann auf der Anlage abspielt.
4. Rotlichtmilieu: Das Trem Azul
Rua Alecrim 21A, http://www.tremazul.com/
Wenn man noch nicht genug guten Espresso getrunken hat, lohnt sich ein Abstecher ins Trem Azul. Hier findet man vor allem Jazz in Neupressung, außerdem gebrauchten Rock und Punk, Electro, sowie CDs. Im hinteren Teil ist eine kleine Bühne, auf der Releasepartys und Konzerte veranstaltet werden. Der Laden versteht sich teils als Plattenladen, teils als Bar. Von Mittwoch bis Samstag hat man dort bis 2:00 in der Nacht geöffnet. Das eigentliche Highlight aber ist die Bar direkt obendrüber. Ein ehemaliges Bordell, das sich seinen rohen Charme erhalten hat und mit jeder Menge Plüsch, Kitsch und schönen Holzdielen aufwartet.
5. Keine Gimmicks, kein Wucher, einfach nur Platten: Das Discolecção
Calçada do Duque 53, http://www.lisbonrecordshops.com/2013/07/discoleccao.html
Aber zurück zu den Läden, die ihr auf gar keinen Fall verpassen dürft. Wiederum nur ein paar Meter entfernt vom Sound Club Store beginnt die Calçada Do Duque, eine dieser endlosen Steintreppen, die so typisch für Lissabon sind und an denen sich eine Reihe von Restaurants, Pastelerias (kleine Bistros mit Café und den berühmten Lissabonner Créme-Törtchen) und Bier-Kneipen (Ceverejas) befinden. Hier verlasst ihr das bairro alto und nähert euch Stufe für Stufe der baixa, dem tagsüber belebten Geschäftsviertel Lissabons. Bevor es jedoch hinunter geht, befindet sich direkt hinter dem Museo de Sao Roque auf der rechten Seite meine absolute Lieblingsadresse für gebrauchte Platten in Lissabon: das Discolecção. Keine Werbung, keine Schilder, nur eine mit alten Plattenanzeigen zugeklebte Glastür, darüber der Name. Hier findet ihr von Jazz über Klassik, Funk, Psych und Beatles-Platten so ziemlich alles. Natürlich ist auch einiges an brasilianischen Releases (original Elenco, Odeon, etc.) aus den 60ern dabei und eine kleine Sammlung mit Afrobeat. Der Besitzer ist Viktor Nunes, ein entspannter älterer Herr, der auch mal mit seinen Freunden und Bekannten ein Bier zu ein Paar Krautrockplatten trinkt. Die Preise sind für europäische Verhältnisse absolut fair und noch nicht so überhitzt wie in manchem Berliner Plattengeschäft. DRINGEND ZU EMPFEHLEN!
6. Magic Bus
Calçada do Duque 17-A, http://www.lisbonrecordshops.com/2013/06/magic-bus.html
Diesen winzigen Laden findet ihr einfach ein Paar Stufen talwärts, leicht am auffälligen Grafitti zu erkennen. Er ist klein, aber liebevoll bestückt und die Preise für Neuerscheinungen sind hier in Ordnung. Einige gebrauchte Platten findet man auch, vor allem Soul, Funk und – in Portugal eine Rarität – ein bisschen Rap ist auch am Start. Wenn ihr nach diesem wahrscheinlich eher kurzen Stopp die Baixa erreicht, lohnt sich ein Abstecher Richtung Avenida da Liberdade, der alten Prunk- und Flaniermeile Lissabons. Ihr überquert den Rossio, einen der größten Plätze der Stadt, und haltet euch dann auf der rechten Straßenseite der Liberdade bis zur Rua das Pretas, in die ihr einbiegt. Von hier aus sind es nur ein paar Meter geradeaus zum wohl bestsortiertesten Plattengeschäfts Lissabons, dem Carbono.
7. Der Platzhirsch in Lissabon: Das Carbono
Rua Telhal 6B, http://www.carbono.com.pt/
Das Carbono ist echter Tipp und gleichzeitig wieder eine Bestätigung: Auf der Suche nach Platten aus Brasilien oder Westafrika, an die man in Deutschland eher schwer oder zu hohen Preisen rankommt, findet man in Lissabon ein riesiges Reservoir. Das Carbono ist hier ganz vorne dabei und hält mehrere qualitativ wie quantitativ herausragend gefüllte Kisten aus Brasilien parat. Immer wieder war ich selbst überrascht, eine Platte in den Händen zu halten, über die ich ein paar Wochen vorher gebloggt hatte, wie dieses Album von Evinha, die wunderbare “Ball of Eyes” von Placebo oder „Ritual“ von Nico Gomez. Auch dabei: Die Kölner Jungs von Melting Pot Music, u.a. mit Sola Rosa und der Funkommunity LP.
Übrigens gilt für den ganzen Laden: Alles ist sehr gut sortiert, deswegen findet man auch kaum richtigen Trash, was ich sehr wohltuend fand. Der Nachtteil ist, dass es schwer wird eine Platte unter 10€ zu bekommen. Ein bisschen mehr stöbern kann man im Untergeschoss. Hier gibt es mehrere Regale an 7” Singles, für die mir die Zeit fehlte. Ähnlich wie im Louie Louie gibt es gebrauchtes Vinyl und einige neue Releases, die preislich etwas günstiger, aber immer noch recht uninteressant sind. Der Laden verfügt auch über einen Onlineshop, in dem man einen Teil des Inventars einsehen kann.
8. Graben nach Nadeln: Der Diebesmarkt im Alfama
Samstags bin ich wieder oben am Miradouro da Santa Luzia und schaue auf den Tejo, zur linken sieht man die weiße Kuppel des PANTEÃO NACIONAL, einem Seefahrerdenkmal, unter dem sich einer der ältesten Flohmärkte nicht nur Lissabons, sondern ganz Europas, der FEIRA DA LADRA, erstreckt. Hier im Alfama liegt der historische Kern der Stadt, der natürlich auch touristisch voll erschlossen wurde. Vom Miradouro Santa Luzia, einem der berühmten Aussichtspunkte, sind es nur ein Paar Minuten zum Flohmarkt. Jeden Samstag schlagen hier unzählige Zelte mit Tonnen von Zeug auf. Natürlich viel Trash, aber wer hier nach billigen Fado-Platten sucht, findet vielleicht die Nadel im Heuhaufen. Für wirklich gezieltes Diggen fehlt allerdings die Ordnung, sowie die Möglichkeit sich die Platten anzuhören. Zwischendurch finde ich einen Stand mit einer sortierten Auswahl an Jazz, Funk und Soulplatten, allerdings empfinde ich die Preise hier eher zu hoch.
Fassen wir zussammen: Wenn ihr nach brasilianischer Musik sucht, dann seid ihr in den Plattenläden Lissabons garantiert richtig. Hier zahlt man faire Preise, die man in Deutschland, Frankreich, England oder auf Discogs.com nur schwer bekommt. Auch die Jazz-Sammlungen haben mich überrascht. Man bekomt eine Jackie McLean Pressung von Action Action Action für faire 20€, da zahlt man in Berlin gerne mal 30-40€. Neue Releases und Represses allerdings sind nach meiner Erfahrung deutlich teurer.
9. Lisboa Live
Ich wohnte 7 Tage bei einer Familie im Mouraria, dem alten maurischen Viertel der Stadt, das schon immer durch seinen hohen Anteil an arabischen, indischen und afrikanischen Einwanderern geprägt war und lange als Drogen- und Prostituiertenviertel galt. Hier verschlug es mich an einem Freitag ins Anos 60s, einer Bar mit Tanzfläche. Chalo Correira, ein Musiker aus Angola, sang und spielte hier die ganze nacht Mirengue und Afrobeat. Die Tanzfläche war voll bis 4 Uhr morgens, das Bier bekommt man für 2€, Eintritt war frei. Gerade im Mouraria findet man am Wochenende immer wieder kleine Konzerte afrikanischer Bands, die die Gassen und Bars aufleben lassen. Diese Abende waren ohne Zweifel die Höhepunkte meiner Zeit in Lissabon. Aber hier muss auch mal Schluss sein. Vielleicht finde ich irgendwann einmal die Zeit, die vielen Live-Konzerte und Jamsessions aufzuschreiben, auf denen ich die letzten Tage war. Es bleibt zu sagen: Lissabon ist eine Reise wert, vor allem wegen der Musik.