Utrecht. Heimat der größten Plattenbörse Europas und an diesem kühlen November-Wochenende das Vinylmekka schlechthin. Schon ewig hatte ich vor, endlich einmal auf der Record Planet vorbeizuschauen – jetzt habe ich es geschafft! Und ich muss an dieser Stelle zugeben, dass ich stellenweise schlicht überfordert war. So viel Geld, wie man hier für Platten ausgeben kann, kann man doch in seinem Leben gar nicht verdienen, ging es mir ständig durch den Kopf. Und trotzdem war die Plattenbörse definitiv eine Reise wert!
Vor meiner Abreise habe ich meiner Freundin und einigen Bekannten großlaut verkündet, dass ich mir definitiv ein Ausgabelimit setzen werde und darauf hoffe, dass auf der Börse weit und breit kein Geldautomat zu finden sein wird. Dass diese Vorstellung unrealistisch sein würde, war mir von vornherein klar, die verantwortlichen Organisatoren sind ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Beim „Geldautomaten“ handelte es sich übrigens um zwei junge Damen, die in einem Container hinter einer Glasscheibe saßen, und den Besuchern gegen Kreditkarte und Pin das Geld durch ein Ausgabefach reichten. In der langen Schlange habe ich im übrigen nicht eine Person beobachten können, die nicht mindestens einen dreistelligen Betrag abgehoben hat – meiner Person inklusive. Portemonnaiekiller Plattenbörse!
Nachdem ich die Halle mit den Schallplatten erreicht hatte (insgesamt gibt es fünf Hallen von der Größe von zehn Fußballfeldern mit antiken Möbeln, Schmuck, Büchern, Briefmarken, Comics, Spielsachen und vielem mehr) war ich erst einmal schlichtweg überfordert. So… viele…. Platten – wo sollte ich denn da anfangen?
Solltet ihr noch nicht dort gewesen sein, gebe ich euch einen kurzen Tipp: Legt euch vorher eine Strategie zurecht, denn sonst verliert ihr aufgrund der Vielzahl an Gängen, Ständen und Platten schnell den Überblick. Ich hätte direkt am ersten Stand mein selbst gesetztes Limit sprengen können. Nur, was mache ich mit den Platten, die mir danach über den Weg laufen: Direkt erneut zum Geldautomaten rennen, der zwei Hallen und gefühlt ebenso viele Kilometer entfernt war? Nix da. Also lieber erst einmal Geduld bewahren und in Ruhe das übrige Angebot sondieren.
Da komme ich auch schon zu meinem zweiten Tipp. Wenn ihr ein interessantes Album entdeckt, aber unsicher seid oder erst einmal abwarten wollt, notiert euch unbedingt die Standnummer oder merkt euch einen Orientierungspunkt. Ihr glaubt gar nicht, wie oft ich an jenem Stand vorbeigelaufen bin, wo es das Debütalbum von Genesis in erstklassigem Zustand zu kaufen gab. Übrigens das Einzige, das mir noch in meiner Sammlung fehlte. Und ich spreche hier von jenen Alben, welche die Band vor dem Aussteigen von Peter Gabriel produzierte. Der Rest ist nicht weiter erwähnenswert. Aber zurück zum Thema.
Unüberschaubare Auswahl: Von 1-Euro-Platten bis zu seltenen Pressungen
Die Auswahl vor Ort als vielfältig zu betrachten wäre untertrieben. Hier gibt es tatsächlich Händler aus aller Welt, die ihre Ware teils etwas lieblos in eingerissenen Pappkartons, aber auch professionell gelagert in Plastikboxen oder schicken selbstgefertigten Holzkisten anbieten. Eine Unart, die ich nach wie vor überhaupt nicht mag, ist jene, dass die Kisten teilweise derart voll mit Platten gepackt werden, dass ein Blättern und Betrachten der Albencover quasi unmöglich wird. Was soll das? Aber nun gut… Das Angebot reichte von Schallplatten mit Hairlines und abgewetzten Covern für 2 oder 3 Euro, über rare Erstpressungen im dreistelligen Bereich bis hin zu seltenen Pressungen aus dem Ostblock wie dem ehemaligen Jugoslawien. Ich glaube, es gibt keine Musikrichtung, die hier nicht vertreten ist, auch länderspezifische Ausprägungen wie Italo Disco, Heavy Metal aus Japan oder afrikanische und karibische Musik in verschiedenen Variationen sind hier zu finden. Nur deutschen Schlager habe ich (glücklicherweise) nicht gesehen. Und auch aktuelle Neuheiten sind eher rar gesät bzw. so gut wie gar nicht zu finden.
Das vielleicht Faszinierendste an dieser riesigen Börse ist es, Plattensammler in ihrem vertrauten Lebensraum beobachten zu können. Ich habe dabei zwei Typen des Homo Vinylus identifizieren können:
- Homo Vinylus Nummer 1 blättert sich in rasender Geschwindigkeit von einer Box zur nächsten und sammelt die interessanten Platten auf einem Stapel, um sie anschließend fast alle zu kaufen – anscheinend aus purer Angst, dass sie ihm jemand wegschnappen könnte;
- Homo Vinylus Nummer 2 hingegen zieht jede interessante Platte aus der Hülle und überprüft sie intensivst auf Hairlines und Kratzer sowie das Cover auf Risse und Knicke, um anschließend um den Preis zu feilschen.
Streng genommen habe ich noch eine dritte Art identifizieren können, die in jüngster Vergangenheit offensichtlich verstärkt auftritt. Homo Vinylus Nummer 3 zückt beim Crate Diggen erst einmal das Smartphone, um Discogs und Co. nach Informationen zu durchforsten. Moderner Preisvergleich sozusagen. Ob das wohl eine Generationenfrage ist und schlicht damit zu tun hat, dass es für jene Vinylfans, die nicht mit der Schallplatte als primärem Musikformat aufgewachsen sind, schwierig ist, eine offizielle Pressung von einem Bootleg zu unterscheiden? Davon gibt es auf der Messe übrigens eine ganze Menge. Leider könnte man meinen, doch die Auswahl ist immer noch derart riesig und hochwertig, dass man es meines Erachtens verschmerzen kann.
Am Ende habe ich es tatsächlich geschafft, mein Ausgabelimit einzuhalten. Und ihr könnt mir glauben, dass es mir verdammt schwer gefallen ist. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich vor der ein oder anderen Platte gestanden habe, um sie letztlich schweren Herzens wieder zurückzulegen. Manchmal siegt dann doch die Vernunft über den niederen „Haben wollen!“-Instinkt. Als ich irgendwann gegen späten Nachmittag auf mein Smartphone blickte, war ich dann aber doch ziemlich erstaunt. Immerhin wurde mir auf dem Bildschirm mitgeteilt, dass ich an diesem Tag knapp 12 Kilometer zurück gelegt hatte. Ein Vinylhalbmarathon quasi. Kein Wunder also, dass mir meine Füße weh taten. Aber diese Erfahrung war es wert. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Begrenzung auf zwei derartige Plattenbörsen im Jahr durchaus sinnvoll ist. Jedes Wochenende ein solcher Aufwand – da wirst du doch bekloppt! 🙂
Ein kurzer Wortwechsel mit Cas Bosland:
Natürlich habe ich es mir nicht nehmen lassen, ein paar Worte mit Cas Bosland, dem Organisator der ganzen Angelegenheit zu wechseln. Da dieser – wie ihr euch vorstellen könnt – an diesem Wochenende wie auch in den Tagen und Wochen davor ziemlich unter Stress stand, fallen seine Antworten dementsprechend kurz aus. Trotzdem lesenswert, hoffe ich!
VFM: Die erste Plattenbörse dieser Art hat in Utrecht vor mehr als 20 Jahren statt gefunden. Wie hat sich die Börse in der Zwischenzeit verändert und weiter entwickelt?
Als wir 1985 in Amsterdam die erste Plattenbörse veranstaltet haben, gab es dort ausschließlich Vinyl. Das hat sich langsam geändert, Mitte der 90er lag der Anteil von CDs und Vinyl bei 50:50. Erst in den vergangenen Jahren hat sich das durch den Vinylboom wieder etwas umgekehrt. Heute sind knapp 80% der angebotenen Alben LPs. Die Besucherzahlen haben sich stetig gesteigert – von 6000 auf unserer ersten Börse in Utrecht im Jahr 1992 bis hin zu den 35.000 Besuchern aktuell.
VFM: Hat sich der so genannte „Vinylboom“ in irgend einer Weise auf die Plattenbörse ausgewirkt?
Der größte Unterschied ist vermutlich, dass die Börse mehr und mehr junge Menschen nach Utrecht lockt, um Vinyl zu kaufen. Auch die weibliche Zielgruppe zählt mittlerweile zu den regelmäßigen Besuchern und die Gesamtzahl ist zuletzt stark gestiegen. Heutzutage finden sich hier alle möglichen Menschen im Alter von 18 bis 80 Jahren. Allerdings sind die Männer mit einem Anteil von knapp 70% immer noch deutlich in der Mehrheit.
VFM: Es gab Zeiten, in denen Vinyl als tot bezeichnet wurde. Gab es jemals einen Zeitpunkt, an dem die Börse aufgrund des nachlasssenden Interesses an LPs auf der Kippe stand?
Nicht wirklich, nein. Zu Beginn der 2000er Jahre gab es ein kurzes Tief, doch es gab immer genügend unermüdliche Plattensammler und Utrecht war stets der Ort, wo sich „crate digger“ aus der ganzen Welt von Angesicht zu Angesicht treffen konnten.
VFM: Hier in Berlin oder in Deutschland allgemein, gibt es nahezu jedes Wochenende Plattenbörsen oder Flohmärkte, auf denen ich Schallplatten kaufen kann. Was macht den Record Planet in Utrecht so besonders, dass Besucher aus aller Welt regelmäßig vorbeikommen?
Wir nutzen das Internet seit 1995, um die Plattenbörse weltweit zu promoten. Dadurch erhielten wir schnell eine Menge Aufmerksamkeit von Sammlern in Brasilien, Mexiko, Südafrika, den USA, Japan, Russland, Australien und sämtlichen europäischen Ländern. Ein großer Teil des Plattensammelns läuft heutzutage zwar über das Internet, aber trotzdem ist das Sammeln an sich eine soziale Angelegenheit. Sammler möchten sich ein oder zweimal im Jahr treffen und Hände schütteln. Zuhause vor dem eigenen Rechner mit der Kreditkarte in der Hand zu sitzen hat nichts Soziales. Das ist hier in Utrecht anders.
VFM: Hier in Utrecht sind knapp 500 Händler anwesend. Ist es eigentlich möglich zu sagen, wie viele Schallplatten an diesem Wochenende über den Ladentresen gehen?
Wir haben absolut keine Ahnung. Einige Platten werden sehr günstig verkauft, andere Händler bringen ausschließlich rare Sammlerstücke. Wenn du aber die Besucher anschaust, die die Halle mit Koffern und Kartons voller Vinyl und CDs verlassen, kannst du dir ausmalen, dass es verdammt viele sind!
Du hast schon angesprochen, dass sich hier einige Raritäten finden. Hast du eine Vorstellung, welches das teuerste Exemplar war, das jemals auf eurer Plattenbörse verkauft worden ist?
Leider nicht wirklich. Ich habe aber von einem amerikanischen Sammler gehört, der für eine unbekannte Doowop-7“ knapp 10.000 Euro auf den Tisch gelegt hat. An diesem Wochenende wird Omega Auctions zahlreiche LPs zum Versteigern anbieten, darunter eine besondere Kopie des White Albums mit der Nummer 00000007, die extrem rar ist. (Anm. des Autors: die erwähnte Kopie des White Albums der Beatles ist am Samstag für 24.000 Euro versteigert worden!)