1976 öffnete im Londoner Stadteil Notting Hill ein kleiner Plattenladen namens Rough Trade, der sich mit den Jahren zu einer wahren Institution und Grundlage für ein Label entwickeln sollte, bei dem eine Band wie The Smiths unter Vertrag stand. Nachdem sich Rough Trade schon 2007 mit der Eröffnung einer zweiten, weitaus größeren Filiale im Londoner In-Viertel Shoreditch sämtlichen Entwicklungen der Musikindustrie widersetzte, eröffnete am Montag der Rough Trade Store in New York seine Türen. Zur Eröffnung des nunmehr größten Plattenladens in New York spielte Charles Bradley einen schicken kleinen Instore-Gig.
In Williamsburg ganz in der Nähe vom East River entstand in den vergangenen Wochen und Monaten ein 15.000 qm großer Komplex, der weniger an einen Plattenladen als eine Filiale von Media Markt erinnert. Hier werden ab sofort nicht nur CDs und Schallplatten verkauft, sondern auch Kaffee, Getränke und Kuchen für die Vinyl Junkies. Es gibt eine Konzerthalle samt Bar, die bis zu 300 Menschen Platz bietet. Nahezu täglich sollen hier Konzerte statt finden – kostenlose während der regulären Öffnungszeiten und solche mit Ticketzwang am Abend. Die New York Times bezeichnet die Eröffnung des dritten Rough Trade Stores als „ambitious bet on CDs and vinyl at a time when thousands of other music retailers have closed.“ Und das nicht zu Unrecht!
Musikhändler in der Krise
Kleine Plattenläden und Händler leiden unter dem Wandel der Kaufgewohnheiten. Häufig müssen sie schließen, weil sie den Abgang der Käufer in den digitalen iTunes-Store oder zu Amazon nicht verkraften können. Den großen Ketten geht es nicht anders: Mit Wal-Mart oder Best Buy mussten die Marktführer auf dem US-Markt bei physischen Musikdatenträgern in den vergangenen fünf Jahren Verkaufseinbußen von 71,6 bzw. 51,7% hinnehmen. In Deutschland sieht es ähnlich aus. Schleppend versuchen Marktführer wie Saturn und Media Markt das Onlinegeschäft mit einem eigenen Shop oder den Aufkauf von Onlineanbietern wie Redcoon anzukurbeln.
In den USA hat mit Tower Records die größte Kette bereits 2004 Insolvenz angemeldet. In New York mussten allein in diesem Jahr mit Bleecker Bob´s und Sound Fix Records zwei Musikinstitutionen ihre Türen schließen. Der simple Grund: zu wenig Umsatz. Wahrscheinlich wird in den selben Räumen mittlerweile Frozen Yoghurt oder Bubble Tea verkauft, wie die Pitchfork-Dokumentation „Revolutions per Minute: The State of The Vinyl Music Business“ eindrucksvoll schildert:
Es ist richtig, dass Vinyl die einzige Sparte ist, die in den vergangenen Jahren stabile Zuwächse verzeichnen konnte. Doch von dieser Entwicklung profitieren nicht automatisch die Plattenläden, denn auch Vinylfans kaufen immer häufiger im Internet ein. Oder eben auf Flohmärkten. Insbesondere alt eingessene Plattenläden machen dicht, weil sie die steigenden Mieten in Innenstadtnähe nicht länger bezahlen können.
Rough Trade erscheint da wie eine Ausnahme und ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Jedes Jahr setzt das Unternehmen mehr um. Die letzten bekannten Zahlen, die ich finden konnte, stammen von 2008, als Rough Trade umgerechnet drei Millionen Euro Umsatz verzeichnen konnte. Darüber kann ein Gigant wie Amazon sicherlich nur müde lächeln, dennoch ist Rough Trade ein gesundes Unternehmen, dass sich (zumindest momentan) um seine Zukunft keine Gedanken machen muss. Im April diesen Jahres ist Rough Trade vom britischen Magazin Music Week als “Retail Brand of the Year” ausgezeichnet worden.
Es stellt sich die Frage, was Rough Trade anders macht als der Rest. Warum kann es sich Rough Trade in Zeiten einer „von allerlei Umsatz- und Identitätskrisen gestressten Musikindustrie„, in der „Internet-Firmen wie Amazon und iTunes immer mehr traditionelle Plattenläden ausradieren“ (O-Ton Spiegel Online) leisten, in New York den größten Plattenladen der Stadt zu eröffnen?
Analog ist besser, Digital aber auch nicht verkehrt
Vermutlich ließe sich ein komplettes Essay verfassen, um diese Frage ausführlich und abschließend beantworten zu können. Doch letztlich sind es meiner Meinung nach zwei Punkte, die den Erfolg von Rough Trade auszeichnen. Zunächst einmal schafft es die Firma perfekt, dass Analoge mit dem Digitalen zu verknüpfen.
Es war der heutige Geschäftsführer Stephen Godfroy, der Rough Trade 2004, als er selber noch ein Stammkunde des Ladens war, einen genialen Vorschlag machte: Jeden Monat sollten zehn Alben ausgewählt und an Abonnenten verschickt werden. Mittlerweile hat der Album Club mehr als 2000 Mitglieder und ist in seinen Funktionen ausgeweitet worden. So können der „Track of The Week“, bei dem es sich eigentlich um die „6 most exciting new tracks“ handelt, als Mp3-Download oder das Album des Monats als Mp3, CD oder auf Vinyl abonniert werden. Für eine Laufzeit zwischen 3 und 12 Monaten. Natürlich stehen sämtliche Alben auch im Onlineshop zum Bestellen zur Verfügung. Denn auch für Plattenläden ist es wichtig, im Internetzeitalter anzukommen!
Der zweite wichtige Erfolgsfaktor ist, dass Rough Trade versucht ein „Einkaufserlebnis“ zu schaffen. „Visiting us is like visiting a cultural hub; it’s not simply a place for purchasing. There’s a relative lack of places [in New York] that allow people to hang out in an environment that celebrates the art, not the commodity„, wird Stephen Godfroy im Guardian zitiert. Erlebniswelt Plattenladen sozusagen. In London haben sie genau das bereits geschafft. Wer einmal einen Fuß in den Laden in der Nähe der Brick Lane gesetzt hat, versteht genau, wovon ich schreibe. Nicht nur, dass hier regelmäßig Künstler kleine Konzerte geben, für die kurz ein paar Regale zur Seite geschoben werden. Vor dem ladeneigenen Fotoautomaten bildet sich stets eine lange Schlange. Die Fotos werden übrigens direkt auf die Webseite von Rough Trade hochgeladen und finden natürlich in den sozialen Netzwerken massenhaft Verbreitung: „Schaut her, Leute, ich bin im legendären Rough Trade in London!“ Marketingtechnisch ist das kaum zu bezahlen.
Mit der klassischen romantischen Vorstellung eines Plattenladens, wie er etwa in High Fidelity dargestellt wird, hat das natürlich nicht mehr viel gemein. Ich muss an dieser Stelle auch ehrlich zugeben, dass ich mich in dem kleinen Plattenladen in Notting Hill weitaus wohler gefühlt habe als in der still gelegten Brauerei an der Brick Lane mit ihrem funktionalen Design aus Lüftungsanlagen, Wasserrohren und Stromkabeln. Der kleine Laden in der Talbot Road wirkt wie eine Reise in jene Zeiten als Vinyl noch der einzig relevante Tonträger war. Hier finden sich lediglich Platten, die von den Inhabern persönlich für gut befunden worden sind. Große Acts wie Robbie Williams, der hier selber oft vorbeischaut, oder sonstige Vertreter aus den höheren Regionen der Popcharts sucht der Kunde hier vergebens. Im Keller finden sich alte Klassiker auf gebrauchtem Vinyl, sogar eine Erstpressung des Rolling Stone-Klassikers „Exile On Main Street“ war hier zu finden. Kostenpunkt: 150 britische Pfund. Der Altersschnitt der Kunden war ungleich höher als jener an der Brick Lane, das wie eine Hochburg stylish und in meinen Augen manchmal auch merkwürdig gekleideter Hipster daher kam. Der Rough Trade-Jutebeutel war an jenem verregneten Tag im März vermutlich das Produkt, dass am häufigsten über die Ladentheke wanderte.
Ob nun aber in Notting Hill oder Shoreditch – das Konzept von Rough Trade geht auf. Wie drückt es Miteigentümer Nigel House so schön aus: „I just want a record shop I´d be happy in.“ Und das haben sie definitiv hingekriegt, die Jungs und Mädels von Rough Trade. Zumindest in London. Sollte ich es einmal nach New York schaffen, werde ich natürlich auch dort in die „Erlebniswelt Plattenladen“ eintauchen. Und an dieser Stelle davon berichten…