Es mag zum Einstieg etwas pathetisch klingen, aber Chicago ist eine Stadt, die Musik atmet. Und das nicht nur in Bezug auf die Plattenläden, von denen es in einer Stadt dieser Größe natürlich eine ganze Menge gibt. Jeden Abend gibt es hier irgendwo Livemusik zu entdecken, ob von etablierten Acts, Nachwuchsbands oder auf offenen Bühnen. Für Musikliebhaber ist die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten definitiv eine Reise wert.
Von „Chicago Blues“ hat bestimmt bereits der ein oder andere etwas gehört. „Chicago House“ gilt sogar als einer der Ursprünge von House Music. Bekannte Künstler*innen und Bands aus der Stadt sind Kanye West, die Smashing Pumpkins, Muddy Waters und Sam Cooke, Earth Wind & Fire, Ministry oder Wilco, die auf dem Cover ihres fast schon legendären Albums „Yankee Hotel Foxtrot“ zwei der Marina City Towers aus Downtown Chicago verewigt haben.
Wir haben in Chicago in einem Hostel in direkter Nähe zum Wrigley Field gewohnt, dem Stadion der Chicago Cubs. Für weniger sportaffine Menschen: es handelt sich um ein Baseball-Team. Einer der größten Fans der Mannschaft ist ein gewisser Eddie Vedder, der auch die Stadionhymne verfasst hat. Leider ist diese erst ein halbes Jahr nach meinem Chicago-Trip auf 7″ veröffentlicht worden (die Discogs-Preise bewegen sich ärgerlicherweise jenseits der 200 Dollar). Zudem finden hier sowohl das Lollapalooza als auch das Pitchfork Festival statt. Ein guter Ausgangspunkt also für eine musikalische Erkundung der Stadt.
Nicht alle Plattenläden geschafft
Natürlich habe ich mir vorher eine Liste an Plattenläden erstellt, die ich wenn möglich gerne besuchen möchte. Letztlich gelingt so ein Vorhaben aber selten, weil a) eine Stadt wie Chicago weitaus mehr zu bieten hat als Plattenläden und b) die Wege in einer derart großen Stadt sehr weit sind – noch viel weiter als z.B. in Berlin. Oft empfinde ich es als schwierig, mit dem ÖPNV eine halbe bis dreiviertel Stunde in eine Gegend zu fahren, in der sonst nichts Spannendes los ist, bloß um einen einzelnen Laden zu besuchen. Außerdem neigen Plattenladenbesitzer gerne zu obskuren Öffnungszeiten oder jene bei z.B. Google Maps angezeigten sind nicht vernünftig gepflegt oder aktuell.
Nicht geschafft habe ich es daher zu Dusty Groove, Favourite Records, Record Breakers, Pinwheel Records oder 606 Records. Glücklicherweise blieben genügend Läden übrig, von denen ich in der Folge ein paar vorstellen möchte.
Reckless Records
Reckless Records verfügt direkt über drei Filialen in Chicago: in Lakeview, Wicker Park und Downtown im Loop. Die Filiale in Wicker Park, ein Viertel, das man durchaus als Hipster-Hochburg bezeichnen kann, ist nur wenige Meter vom Schauplatz von High Fidelity entfernt. Was viele vielleicht nicht wissen, aber bei „Championship Vinyl“ handelte es sich nicht etwa um einen realen Plattenladen, sondern es wurde eine leerstehende Ladenfläche auf der North Milwaukee Avenue genutzt, die heute ein Geschäft für Radsportbekleidung beheimatet. Ein paar hundert Meter die Straße runter befindet sich die Filiale von Reckless Records. Neben einer Menge neuer und alter Schallplatten finden sich hier auch Unmengen von DVDs, Tapes und sogar alten VHS-Kassetten. Ich muss allerdings sagen, dass ich mich in dem Laden nicht so wirklich zurecht gefunden habe. Da hat mir Filiale Nummer 2 in Lakeview wesentlich besser gefallen. Die Auswahl quer durch alle Genres ist immens – sowohl neu als auch gebraucht – und übersichtlich sortiert. Wer hier nichts findet, der hat entweder keinen Musikgeschmack oder einen ganz gewaltig obskuren. Der einzige Nachteil: der Laden war richtig voll, so dass sich vor einigen Regalen die Kunden regelrecht drängelten und das Stöbern nicht wirklich Spaß machte. Aber erstens war es Samstag nachmittag und zweitens kann man das Reckless Records ja schlecht zum Vorwurf machen. Filiale Nummer 3 im Loop habe ich mir dann gespart, denn an Plattenläden mangelt es in der Stadt definitiv nicht.
Shuga Records
Shuga Records war mir bereits vor meinem Trip nach Chicago ein Begriff. Immerhin handelt es sich hier um einen der größten Onlineplattenhändler der Welt. Sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag gibt es, welcher Plattenladen kann das schon von sich behaupten? Das Ladengeschäft ist hochwertig eingerichtet mit schicken Holzregalen, zahllosen verschiedenen Genres, etwas Merch und Listening Stations fürs Reinhören. Insgesamt ein sehr moderner Laden, der sich auch an die nachwachsende Vinylgeneration richtet. Mehr Impressionen könnt ihr euch in diesem kurzen Video auf Vimeo anschauen.
Dave´s Records
Bei Dave´s Records weiß man bei einem Blick ins Schaufenster direkt, woran man ist. Auf einem Schild steht „NO CD’S NEVER HAD ‚EM!!! NEVER WILL!!!“ Hier gibt es ausschließlich Vinyl. Und ich muss sagen, hier gibt es vieles, was das Sammlerherz begehrt. Vor allem Second Hand kann man hier einiges entdecken, insgesamt sollen laut Webseite 40.000 Platten in den verschiedenen Formaten vorrätig sein. Auch eine eigene Sektion für lokale Bands und Labels ist vorhanden.
Gramaphone Records
Einer der alteingessenen Läden der Stadt. Bereit 1969 öffnete der Laden seine Türen – wow! Seit dem Aufkommen der House Music in den 1980ern legt der Laden seinen Fokus auf elektronische Musik. Aber auch Hip Hop oder (Italo) Disco LPs finden sich hier in den Regalen. Wie jeder Weiß sind das nicht unbedingt meine bevorzugten Genres, so dass ich hier nicht wirklich fündig geworden bin. Von der Atmosphäre her aber auf alle Fälle einen Besuch wert. Und Fans der genannten Genres sollten hier definitiv vorbeischauen!
Bucket O’Blood
Bucket O’Blood bedient die Vorlieben verschiedenster Gruppen von Nerds. Neben einer schönen Auswahl an Vinyl Schallplatten auch härterer Gangart finden sich hier Manga Comics, Graphic Novels, Puzzles und Spiele. Es wäre wohl der Laden, in dem ich am ehesten abhängen würde – auch wenn er im Stadteil Avondale nicht wirklich zentral gelegen ist. Auf jeden Fall habe ich hier die ein oder andere Platte mit nach Hause genommen.
Bric A Brac Records
Noch so ein Laden, der sich an Sammler jeglicher Art richtet. Hier gibt es nicht nur Vinyl, sondern alles, was Popkultur zu bieten hat. Für mich als Kind der 80er ein kleines Paradies, denn im Sortiment gibt es Tapes, VHS-Kassetten (ich bin glaub ich einer der wenigen Menschen, der noch einen Videorekorder daheim hat), alte Filmposter oder Spielzeug aus den 80ern und 90ern. Und das Ganze echt stylish und liebevoll eingerichtet. Nostalgie pur!
Achso, woran man bei einem Besuch im Plattenladen (und natürlich auch in anderen Geschäften) immer denken muss: Auf den Preis, der auf den Platten steht, muss stets die Steuer mit drauf gerechnet werden. Das ist tatsächlich etwas gewöhnungsbedürftig und kann beim ersten Besuch an der Kasse zu Irritationen führen, wenn man merkt, dass man eben nicht die 20 Dollar zahlen muss, die auf dem Etikett kleben.
Eine Zeitreise in die 20er Jahre
Wie ich bereits erwähnt habe, hat Chicago musikalisch einiges zu bieten. Direkt an unserem ersten Abend sind wir vollkommen jetleggeplagt ins Metro Chicago, eine echt schöne Venue, die bereits 1982 eröffnet und dementsprechend unfassbar viele Bands gesehen hat. U.a. haben hier Pearl Jam ihren ersten Chicago-Gig gespielt und 1992 ein Livealbum aufgenommen. An diesem Januar-Abend haben Destroyer unsere Müdigkeit ordentlich weggeblasen – besser hätte der USA-Trip kaum beginnen können.
Ein weiteres Highlight war der Besuch in der „Green Mill Cocktail Lounge“ in Uptown. Es ist einer der ältesten Jazzclubs in den USA und der am längsten durchgängig betriebene Nachtclub in Chicago. Berüchtigt wurde der Club in Zeiten der Prohibition als Treffpunkt des sogenannten Chicago Outfit, Al Capone galt zwischenzeitlich sogar als inoffizieller Inhaber. Noch heute steht hier Capones Tisch, von dem aus er den Ein- und Ausgang stets im Blick hatte. Die Performance eines typischen Swing-Orchesters machte den Abend zu einer tollen Zeitreise in die 1920er Jahre.
Ich kann die Stadt jedem nur wärmstens empfehlen, auch wenn das Image wirklich nicht immer das beste ist. Und das aus gutem Grund. Zwar habe ich persönlich mich in Chicago zu keinem Zeitpunkt unsicher gefühlt, dennoch gilt die Stadt als eine der brutalsten der Vereinigten Staaten. Ich kann mich noch dran erinnern, dass uns ein Uber-Fahrer davor gewarnt hat, nicht weiter als bis zu einer bestimmten U-Bahn-Station zu fahren (den Namen habe ich vergessen), weil es im Süden der Stadt für „weiße Menschen“ einfach verdammt gefährlich wäre. Die South Side wird häufig als gefährlichstes Viertel der USA bezeichnet, 2016 gab es in Chicago 762 Morde – eine Zahl, die sich kaum begreifen lässt!