Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir mit einer solchen Aussage zu Beginn dieses Artikels selber ins Bein schieße. Aber tatsächlich befindet sich unter den knapp 1500 Platten in meiner Sammlung hier zuhause kein Album, dass ich dem Genre Jazz zuordnen würde. Nicht mal Klassiker wie „Bitches Brew“ oder „A Love Supreme“ haben es bislang in meine Sammlung geschafft. Woran das liegt fragt ihr?
Eine sehr gute Frage. Ich habe keine ausgeprägte Abneigung gegen das Genre wie etwa gegen Schlager, aber irgendwie war mir Jazz auf Dauer immer zu anstrengend. Mal als Hintergrundmusik bei der Arbeit im Plattenladen oder als Begleitmusik in Filmen – kein Thema. Über die Länge einer gesamten Schallplatte hingegen konnte mich Jazz nie begeistern, sondern war eher ein Genre mit Nervpotential. Daran hat auch „La La Land“ nichts geändert (sorry, die Anspielung konnte ich mir nicht verkneifen)… oder Kamasi Washington, das Lieblingskind des Jazz von gefühlt jeder Musikredaktion dieser Welt, auf den sich in den vergangenen Jahren plötzlich jeder einigen konnte – unabhängig davon, welche Musik sonst bevorzugt gehört wird.
Ein Versuch der Erklärung: Da sich mir Musik in erster Linie über Emotionen erschließt (oft auch über die Lyrics) fällt es mir offensichtlich schwer, mich für eine sehr auf das Technische fokussierte Spielart, die oft rein instrumental daherkommt, zu begeistern. Der einzige Jazz-Stil, der mir manchmal ein Lächeln auf die Lippen zaubert, ist die Swing-Musik der 1920 und 30er Jahre, wie sie z.B. in Serien wie Boardwalk Empire und Babylon Berlin oder Filmen wie Cotton Club zelebriert wird. Während eines Chicago Trips vor ein paar Jahren hat es uns in die „Green Mill Cocktail Lounge“ verschlagen, einen der ältesten Jazz-Clubs der USA, in dem für Al Capone ein eigenes Separée reserviert war, von dem aus er stets den Eingang überblicken konnte. Eine Swingband live in einem solchen Umfeld zu sehen war ein tolles und einprägsames Erlebnis!
Veränderung der eigenen Wahrnehmung
In der jüngeren Vergangenheit hat sich meine Wahrnehmung von Jazz etwas geändert. Dafür waren letztlich zwei Liveerlebnisse und ein Album hauptausschlaggebend. Ein guter Freund, auf dessen exquisiten Musikgeschmack ich mich stets verlassen konnte, hat mir vor einigen Jahren den Londoner Jazzmusiker Alfa Mist ans Herz gelegt. Als besagter Freund im November 2018 eigens aus der Heimat nach Berlin gereist kam, um sich dessen Konzert im Festsaal Kreuzberg anzuschauen, war mir klar, dass ich ihn begleiten musste. Mein nicht vorhandenes Faible für Jazz hin oder her. Und was soll ich sagen: einfach wow! Der dargebotene Mix aus Jazz, modernen Hip-Hop-Beats und Soul-Elelementen war schlicht elektrisierend. „Jazz der Zukunft“ habe ich damals irgendwo gelesen.
Ein zweites Erweckungserlebnis der gleichen Art hatte ich bei Snarky Puppy im Huxleys ein Jahr zuvor. Auch hier waren zwei Freunde der treibende Motor überhaupt dorthin zu gehen. Und ich habe es nicht bereut! Da stehen mehr als ein Dutzend unfassbar talentierter Musiker auf der Bühne, deren Zusammenspiel ein Feuerwerk an Beats und Melodien entfacht, das selbst meinen sonst eher lethargischen Körper zum Tanzen brachte. Selten hat mich eine Band derart staunend zurück gelassen, was vielleicht auch mit der vorherigen Erwartungshaltung zu tun hat.
Das Faszinierende ist, dass beide Acts eines gemeinsam haben: was auf der Bühne unfassbar gut funktioniert hat, hatte für mich auf Albumlänge nie den selben einnehmenden Effekt. Es fehlte die Liveenergie der Musiker, die mich in den Bann zieht. Aus diesem Grund haben keine Alben von Snarky Puppy oder Alfa Mist den Weg in meine Plattensammlung gefunden. Bei Letzterem könnte das auch mit den utopischen Discogs-Preisen für die ersten Pressungen seines Debütalbums zu tun haben, die nahezu allesamt für dreistellige Summen angeboten werden. Lediglich die Nachpressung vom letzten Jahr ist erschwinglich. Auch wenn der Funke vielleicht nicht wie beim Liveerlebnis überspringt, ist „Antiphon“ bis dato mein meist gehörtes Jazz-Album, was angesichts meiner Hörgewohnheiten zugegebenermaßen nicht besonders viel aussagt.
Frisches Blut für ein staubiges Genre
Das bereits erwähnte Album, das meine Ohren für den Genuss von Jazzmusik sensibilisiert hat, ist eines, das dem Genre nicht wirklich zugeordnet werden kann. Und zwar das Debütalbum von Black Country, New Road! „For The First Time“ hat mich Anfang 2021 schlicht umgehauen und ist in meinen Ohren mit Abstand das spannendste und beste Album der letzten Jahre. Die Jungs und Mädels zelebrieren eine experimentelle Abwandlung von Post-Punk, die immer wieder regelrecht in den Free Jazz ausbricht, dabei aber nie anstrengend wird, sondern immer aufregend und vor allem hörbar bleibt. Es mag übertrieben klingen, aber seitdem hat sich meine Wahrnehmung von Jazz spürbar verändert.
Hilfreich für diese steigende Faszination für das Genre ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren zahlreiche Jazz-Alben von aufstrebenden Bands veröffentlicht wurden, die dem Genre einen frischen Wind verliehen haben. Weg von der eingestaubten Musik für ältere Menschen (nicht böse gemeint!), hauchen zahllose Künstler*innen dem Jazz durch die Fusion mit anderen Genres wie Afrobeat, Hip Hop oder elektronische Einflüsse einen modernen Anstrich ein. Es tut sich was in der Welt des Jazz. Ich habe mir mal die Freiheit genommen, eine Spotify-Playlist zu erstellen mit aktuellen Acts wie Sons Of Kemet, Szun Waves, Badbadnotgood, Anteloper oder der grandiosen Zusammenarbeit von Floating Points und Pharoah Sanders mit dem Londoner Symphony Orchestra, das 2021 auch in vielen Album des Jahres-Listen aufgetaucht ist. Immer wenn meine Kollegen oder ich eine der dort genannten Platten im Dodo Beach aufgelegt haben, kamen die Kund*innen neugierig an den Tresen, um zu schauen, was dort auf dem Plattenteller liegt. Häufig wurden die Platten dann erfreulicherweise auch gekauft. Sonst gingen im Jazz eher die Klassiker von Miles Davis oder John Coltrane durch die Kasse…
Ein Jazzalbum auf meiner Vinyl-Wunschliste
Beim Schreiben dieses Beitrags fällt mir just in diesem Moment ein, dass es tatsächlich ein Jazz-Album gibt, das ich schon immer auf Vinyl besitzen wollte. Ich weiß auch gar nicht, warum das bislang nicht passiert ist. Immerhin ist vor wenigen Wochen anlässlich des 30jährigen Jubiläums eine Nachpressung von Music On Vinyl erschienen, die in jedem gut sortierten Plattenladen verfügbar sein dürfte. Ach so, die Rede ist im übrigen von „Jazzmatazz, Vol. I: An Experimental Fusion of Hip-hop and Jazz“. Auch hier keine typische Jazzplatte, aber das Projekt von Guru verknüpft beide Welten auf unnachahmliche Weise und hat auch Jahrzehnte nach seinem Release nichts an Faszination eingebüßt.
Die Jazzplatte des Jahres?
Insbesondere die Releases von International Anthem aus Chicago, haben sich dabei durchweg gut verkauft. Das Label scheint ein besonderes Talent zu haben Vinylkäufer für Jazzscheiben zu begeistern. So wundert es nicht, dass auch Makaya McCraven seine Alben auf dem Label veröffentlicht, darunter mit seinem aktuellen Album „In These Times“ auch die Vinyl der Woche. Wenn ihr euch meinen recht ausufernden Beitrag tatsächlich bis hierhin durchgelesen habt, könnt ihr vielleicht nachvollziehen, dass ich von Jazz zu wenig verstehe, um mich an dieser Stelle zu einer tiefgründigen Kritik von Makaya McCraven’s Album aufzuschwingen. Der Rolling Stone beginnt seine begeisterte Kritik mit der Zeile „Wenn Sie 2022 nur eine Jazz-Platte kaufen wollen…“. Vielleicht sollte ich das die Tage auch tun, damit ich die Genrelücke in meiner Sammlung endlich beseitigen kann. Eines ist sicher, dieses Album wäre dafür kein schlechter Anfang.
Vinyl der Woche: schwarz oder weiß – was darf es sein?
Dieses Mal habt ihr bei der Auswahl der Vinylvarianten nicht groß etwas zu entscheiden. Es geht lediglich um die Frage, ob ihr schwarzes oder farbiges Vinyl bevorzugt – in diesem Fall: weißes Vinyl. Die 999 Exemplare der limitierten Variante auf „Cymbal Sheen Colored Vinyl“, die das Label auf seiner Bandcamp-Seite angeboten hat, haben sich tatsächlich während ich diesen Beitrag geschrieben habe, ausverkauft. Hier müsst ihr eventuell bei Discogs euer Glück versuchen…
vinyl der woche