Gestern Abend um kurz nach 21 Uhr im Dodo Beach in Berlin Schöneberg. Der Herr hinter dem Tresen drückt mir eine Platte in die Hand. The Reflektors. Soll nach einer Mischung aus Arcade Fire, LCD Soundsystem und David Bowie klingen, habe ich gehört. Und nicht nur ich. Vor mir haben bereits einige Menschen die selbe Platte erstanden, hinter mir steht noch ein halbes Dutzend Personen mit vermutlich genau der selben Absicht. Der Grund für diesen kleinen Menschenauflauf: ein Marketing-Coup von Arcade Fire. Aber der Reihe nach.
Ein geschickt angefachter Hype um drei Neunen
Am 4. September veröffentlichten Arcade Fire ein Video auf ihrem You Tube-Kanal, das mit dem ominösen Hinweis „Reflektor 9/9 9pm“ endete. Sofort stellten sich Fans der Band die Frage, was wohl an eben diesem Datum passieren würde. Es folgten merkwürdige Hinweise in sozialen Netzwerken, bis schließlich auch zahlreiche Plattenläden Ende der vergangenen Woche ein Foto mit dem Hinweis „Arcade Fire 9/9/pm“ posteten.
Am Wochenende erreichte die Aufregung ihren Höhepunkt. Am Samstag gelangte eine Version eines Songs für kurze Zeit ins Internet, bei dem es sich um die neue Single von Arcade Fire handeln sollte. Ebenso schnell war er wieder verschwunden. Ob es sich um eine gewollte Aktion gehandelt hat, bleibt ungeklärt, die darauf folgenden Ereignisse legen den Schluss nahe. Plötzlich waren auf den verschiedenen sozialen Netzwerken und Musikblogs Stimmen zu hören und zu lesen, die behaupteten, dass sie David Bowie während des Songs wahrgenommen hätten. Die Aufregung war groß: Arcade Fire und David Bowie – wow!
David Bowie selber war es, der schließlich auf seiner Facebook-Seite das Geheimnis lüftete. Er bestätigte nicht nur, dass er auf dem Track tatsächlich zu hören ist, sondern, dass die Single am 9. September um 21 Uhr Abends (9pm) in einer limitierten Version zu haben sein wird. Und damit ging der Hype endgültig los. In meiner Timeline auf Twitter fragten sich viele, wo denn die Platten zu haben sein würden. Und wie viele überhaupt, jeder wollte anscheinend unbedingt ein Exemplar in Händen halten. Die Antwort gab Arcade Fire selber mit einer interaktiven Karte, auf der alle Plattenläden eingezeichnet waren. In Deutschland war bzw. ist die Vinyl in acht Städten in neun Plattenläden zu erwerben, darunter „Branchengrößen“ wie Michelle Records in Hamburg, Underdog Recordstore in Köln, Mono-Ton Schallplatten in Nürnberg oder Green Hell Records in Münster.
Eben jene Plattenläden heizten die Euphorie auf geschickte Weise zusätzlich an, indem sie verkündeten, dass sie an jenem Abend länger geöffnet haben werden. Ohne dabei aber den Namen „Arcade Fire“ zu erwähnen. Von einer „mysteriösen 12“-Veröffentlichung“ war im eigens verschickten Newsletter von Green Hell die Rede. Auf der Facebook-Seite von Michelle Records spekulierten Fans sogar über ein Schaufensterkonzert. „Ein paar mehr Informationen wären sinnvoll„, schreibt ein Fan. Ob er sich bei dem Regenwetter am gestrigen Montag in den Plattenladen gewagt hat, bleibt unübermittelt.
Ein voller Erfolg für die Band und die beteiligten Plattenläden
Ich habe mich am Montag Abend auf den Weg zu Dodo Beach gemacht. Gar nicht mal unbedingt, um die Reflektor-Single zu kaufen, sondern einfach aus Neugierde. Mal schauen, was da so los sein würde. Und tatsächlich: Als ich um kurz vor neun im Laden eintraf, war dieser ziemlich voll. Der freundliche Herr hinter dem Verkaufstresen machte ständig Fotos, weil er es anscheinend selber kaum glauben konnte.
Die virale Marketingkampagne von Arcade Fire ist jedenfalls voll aufgegangen. Die Band selbst hat ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit für sich und ihr am 29. Oktober erscheinendes Album bekommen. Und auch die Plattenläden profitieren. Denn wann reihte sich schon mal an einem Montagabend eine solche Schlange vor den Plattenläden der Republik? Auf der Facebook-Seite von Dodo Beach freute man sich heute: „Seit unserer Eröffnung war es nicht mehr so voll am Dodo Beach. Vielen Dank an The Reflektors und Umusic!“ Auch Green Hell Records postet bei Facebook, dass der Abend ein voller Erfolg war und alle Platten weg sind. Ein weiterer Vorteil: Viele Kunden kauften nicht nur die Single der Reflektors. Wir alle wissen, dass es das harte Los eines Plattensammlers ist, dass er selten nur mit der Scheibe nach Hause geht, wegen der er ursprünglich gekommen ist.
Das besonders perfide an der Marketingkampagne ist in meinen Augen, dass der Plattenliebhaber eine Single erworben hat, die er sonst vermutlich nicht unbedingt in seine Plattensammlung aufgenommen hätte. Ich zumindest nicht. Das Album hätte mir gereicht. Und ich muss zugeben, dass ich beim Anstehen in der Schlange lange am überlegen war. 14,99€ für zwei Songs sind harter Tobak. Im Normalfall hätte ich die nicht hingeblättert. Es war wohl die Atmosphäre und dieses Gefühl, Teil eines besonderes Abends zu sein, die mich dazu animiert hat, das Geld auf den Tresen zu legen. Auch an dieser Stelle hat die Kampagne also wunderbar funktioniert. Man mag das kritisieren, aber letzlich ist es eine Entscheidung, die ich und alle anderen in den weltweiten Plattenladen-Schlangen bei vollem Bewusstsein getroffen haben. Bereut habe ich die Entscheidung nicht, denn die Scheibe sieht wirklich toll aus und der Song ist in meinen Ohren unglaublich grandios.
Ein paar Linernotes
Von der Vinylsingle werden weltweit 500 Exemplare verkauft. Auf der Rückseite ist zwar eine Tracklist mit 14 Songs auf der A- und B-Seite abgedruckt, tatsächlich enthält die Vinyl aber bloß zwei Songs. Ihr seht schon, Arcade Fire lassen keine Möglichkeit aus, um ihre Fans weiter zu verwirren. Passend zum Namen der Band steckt die Vinyl in einer wirklich schicken reflektierenden Hülle. Produziert wurde der Track im übrigen von James Murphy. Und dessen Einfluss ist unüberhörbar. Nie waren Arcade Fire auch nur ansatzweise so tanzbar. Das ist fast schon Disco. Es wird zahlreiche Fans geben, die diesen Richtungswechsel nicht mögen, trotzdem steigert er die Spannung und Vorfreude auf das kommende Album definitiv!
Zeitgleich zum Verkaufsstart gestern Abend wurde auch das dazugehörige Musikvideo in schwarz-weiß veröffentlicht, das eher als Kurzfilm zu bezeichnen ist. Verantwortlich zeichnet sich niemand Geringeres als Anton Corbijn. Schauts euch in aller Ruhe bei tape.tv an: