Vor einigen Jahren habe ich an dieser Stelle einen „offenen Brief an meinen geliebten Record Store Day verfasst“ , in dem ich meine ambivalente Beziehung als Plattensammler zum Vinylfeiertag offenbarte. In den mehr als sechs Jahren, die ich im Dodo Beach Plattenladen gearbeitet und die Abläufe des Record Store Days hautnah miterleben konnte, hat sich diese nicht wirklich verändert. Ich sehe den Reiz dieses Tages für Kund*innen und Plattenläden ebenso wie die zahlreichen Kritikpunkte, die zurecht vorgebracht werden.
Mittlerweile habe ich eine recht gleichgültige Beziehung zu dem Tag entwickelt. Die Summe, die ich an dem Tag im Plattenladen lasse, ist recht überschaubar und so wirklich begeistern konnten mich die letzten Jahre nur wenige Releases.
Taylor Swift Day oder Record Store Day?
Das führt aber auch dazu, dass ich am Record Store Day keinerlei Druck empfinde, weil ich keine ellenlangen Wunschlisten abarbeiten muss. So konnte ich am Samstag um kurz nach 8 Uhr morgens entspannt das Haus verlassen, um ein paar Impressionen vom Vinylfeiertag zu sammeln. Immerhin war es das erste Mal seit 2015, das ich am Record Store Day nicht selber hinter dem Tresen im Plattenladen stehen musste.
Meine erste Station: das Dussmann Kulturkaufhaus an der Friedrichstraße. Nach dem Verlassen der U-Bahn-Station sah es von weitem zunächst so aus, als sei gar nicht derart viel los. Doch weit gefehlt. Bei näherer Betrachtung musste ich fest stellen, dass sich die Schlange um die Ecke die komplette Mittelstraße herunter bis in die Charlottenstraße hinzog. Mehrere Hundert Menschen warteten hier auf Einlass.
Nach Öffnung der Ladentüren wird die Menge recht schnell vom riesigen Kaufhaus geschluckt. Das Erste, was ich nach dem Betreten sehe: eine junge Frau, die sich mit der Taylor Swift-Platte in der Hand fotografieren lässt. Samt der begleitenden Frage: „Soll ich dich bei Instagram verlinken?“ Auch sonst kommen mir zu Beginn viele strahlende junge Menschen mit der Taylor Swift LP in den Händen entgegen. Nur wenige Minuten später sehe ich eine Gruppe Swifties (so nennen sich die Fans der Sängerin), die sich gemeinsam fotografieren lässt. Natürlich allesamt stolz mit dem RSD-Release ihres Idols in der Hand. Die Verabschiedung am Ende: „Wir sehen uns auf Instagram!“ Da wundert es nicht, dass die knapp 100 Exemplare, die Dussmann vorrätig hatte, in einer Stunde weg waren.
Im Vorfeld des Record Store Days hatte ich manchmal das Gefühl, das lediglich ein Release in den Regalen stehen wird. Unzählige Plattenläden veröffentlichten in der Woche vorm Record Store Day Fotos mit Kisten voll mit der Taylor Swift Vinyl. Angeblich sind weltweit 115.000 Exemplare des Releases gepresst worden – 75.000 für den US-Markt, 40.000 für den Rest der Welt. Das ist schon Wahnsinn!
Aber zurück zu Dussmann: Aufgrund der Größe des Kulturkaufhauses verteilte sich die Menge drinnen recht gut. Die Regale und Boxen mit den RSD-Releases waren auf verschiedene Standorte verteilt, trotzdem herrschte davor ein reges Gedränge, das kaum Bewegungsspielraum ließ. Spaß macht das Stöbern so nicht wirklich, stets hat man bereits eine oder mehrere andere Personen im Nacken. So ist letztlich nur die 7″ Single von Sam Fender in meinen Jutebeutel gewandert, dessen Musik mir in den letzten Jahren wirklich ans Herz gewachsen ist.
Lange Schlange wie vorm Berghain
Nächste Station der Record Store Day-Reise: der HHV Plattenladen in der Grünberger Straße. Auch hier zog sich bereits vor der Öffnung um 10 Uhr eine ewig lange Schlange den Bürgersteig entlang. Und das ausnahmsweise mal nicht für eine Wohnungsbesichtigung im hippen Bezirk Friedrichshain. Viele Passanten hielten fragend an, was es denn hier Spannendes zu erwerben gibt. Bei der Antwort „limitierte Schallplatten“ war in vielen Augen großes Erstaunen zu erkennen. Das Vinyl Revival hat sich anscheinend noch nicht bei allen rumgesprochen.
Da der Plattenladen weitaus kleiner ist als das Kulturkaufhaus, wurden die wartenden Kund*innen etappenweise hereingelassen. So war die Schlange eine knappe halbe Stunde nach Ladenöffnung nicht etwa kürzer geworden, sondern noch ein paar Meter länger. Auch hier verließen viele Kunden freudestrahlend mit gut gefüllten Jutebeuteln im Record Store Day-Design den Laden. Hauptobjekt der Begierde natürlich: der Release von Taylor Swift.
Mit einem Kaffee in der Hand ging es dann zu Laden Nummer drei: bei Coretex Records in Kreuzberg wartete tatsächlich nur ein knappes Dutzend Personen vor der Ladentür. Bereits vorher wurde angekündigt, dass man Taylor Swift hier vergeblich suchen würde. So war die Auswahl an RSD-Releases eher beschaulich: an der Kasse stand eine Kiste mit zum Punk- und Hardcore-Sortiment des Ladens passenden Platten. Auch hier wanderte kein Release in meinen Jutebeutel. Mein Portemonnaie wird es mir danken.
Danach war meine Reise auch bereits beendet. Es überrascht mich immer wieder, wie wenig der Record Store Day in einer Stadt wie Berlin eigentlich präsent ist. Plattenläden wie Oye Records oder Bis Aufs Messer haben ihren Verzicht erklärt und die vielen auf elektronische Musik oder Second Hand fokussierten Läden nehmen ebenfalls nicht teil. Neben meinem alten Arbeitgeber Dodo Beach mit seinen zwei Läden in Prenzlauer Berg und Schöneberg, dem ich keinen Besuch abgestattet habe, würde mir noch Oldschool Records in Charlottenburg einfallen, aber der war schlicht zu weit weg.
Die großen Kritikpunkte – eine nähere Betrachtung
Die Qualität der Releases – Majorware statt Indiereleases
Jedes Jahr liest man unter den Beiträgen zur Veröffentlichung der offiziellen Releaseliste, dass die Qualität immer schlechter wird und ja gar nichts mehr für einen dabei sei. Haufenweise überflüssige Reissues ist der wohl am häufigsten gehörte Kritikpunkt. Diese Auffassung ist natürlich äußerst subjektiv, immerhin sollte ich doch selber entscheiden können, ob ich ein Reissue als relevant oder überflüssig empfinde. Wenn ich mir anschaue, mit welch prall gefüllten Beuteln zig Kund*innen am Record Store Day den Laden verlassen… – oder die Beiträge auf Instagram betrachte, wo die eigene Ausbeute kaum auf das Foto passt, scheinen für viele Vinylliebhaber doch eine Menge Releases dabei zu sein, die ihrer Meinung nach in die eigene Plattensammlung gehören.
Auffällig ist, dass sich der Fokus am Record Store Day von Indiekünstlern zu Akteuren der Major Labels verschiebt. Die meist verkauften und nachgefragten Releases stammen von den üblichen Verdächtigen wie David Bowie, The Cure, Pearl Jam oder natürlich Taylor Swift. Das ist schon ein Unterschied zum Tagesgeschäft eines Plattenladens. In den Jahrescharts von Dodo Beach tummelten sich zuletzt Acts von Indielabels wie Partisan Records, Dead Oceans, Jagjaguwar, 4AD oder Beggars, darunter Dinosaur Jr., Dry Cleaning, Black Midi, Fontaines D.C. oder die Idles. In diesem Jahr wird The National vermutlich eine Topposition einnehmen, wenn nicht sogar den Spitzenplatz. Am Record Store Day spielen solche Releases eher eine kleine Rolle, DIY-Labels halten sich in der Regel komplett von diesem Tag fern. Das mag man kritisieren bzw. als negativ empfinden, doch die Nachfrage und zahllose Kassenbons von mehreren hundert Euro (der höchste an den ich mich im Dodo Beach erinnern kann, kam auf eine Gesamtsumme von mehr als 800€) bestätigen die viel kritisierte Veröffentlichungspolitik.
Meins ist das zugegebenermaßen oft auch nicht. Das liegt aber eher an meinem persönlichen musikalischen Fokus als an der schwachen Qualität der Veröffentlichungen. Die Releases in den letzten Jahren, die mich wirklich in Aufregung versetzt haben, kann ich vermutlich an einer Hand abzählen. Der Vorteil ist, dass mich der Record Store Day dadurch nicht in die Armut gestürzt hat. Immerhin gibt es noch 364 andere Tage im Jahr, an denen ich Unmengen an Geld in Vinyl investieren kann. Und das auch tue.
Die Preispolitik – Vinyl wird zum Luxusobjekt
Die Vinylpreise sind schon seit Jahren ein großes Thema bei Kund*innnen, Labelbetreibern und Plattenläden. Abgesehen davon, dass gefühlt alles teurer wird, sorgen gestiegene Produktionskosten und geringe Kapazitäten in den Presswerken für einen massiven Preisanstieg. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: wenn ich mir am Record Store Day 2023 beispielsweise die Releases von Taylor Swift, The Cure, Blur und Pearl Jam besorge, bin ich knapp 200 Euro los. Für vier Alben! Die Vinyl Schallplatte wird zum Luxusprodukt.
Den Organisatoren des Record Store Days kann man dieses schwer zum Vorwurf machen, da die Preise von Labels und Vertrieben gemacht werden. Natürlich kann man an die Verantwortlichen appellieren, die Einführung einer Preisobergrenze für Releases ist aber utopisch. Da viele Releases mittlerweile auf das Konto der Major Labels gehen, spiegelt sich das in den Preisen wider. Aber seien wir ehrlich: alleine durch gestiegene Produktionskosten o.ä. lassen sich viele der teuren Preise nicht erklären. Es wird versucht, die Schmerzgrenze der Kund*innen so weit wie irgendwie möglich auszureizen.
Besagte Schmerzgrenze scheint bei vielen Kund*innen aber sehr hoch bzw. gar nicht existent zu sein. Wenn ich mir anschaue wie die Swifties im Dussmann ohne mit der Wimper zu zucken 50€ für die LP auf den Tresen legten. Am Ende sind es die Kund*innen, die darüber entscheiden, ob die Preispolitik von Labels und Vertrieben erfolgreich ist. Bleiben die Releases wie Blei in den Regalen liegen, bewirkt dies eventuell ein Umdenken. Andernfalls nicht.
Nach sechs Jahren Erfahrung mit Record Store Days und Drops im Dodo Beach kann ich allerdings recht sicher prognostizieren: diese Entwicklung wird nicht eintreten. Am Record Store Day interessiert es kaum einen Kunden, welcher Preis für den Release aufgerufen wird. Ob die Taylor Swift LP nun für 45€ oder 60€ gelistet wird, scheint für die Kaufentscheidung nebensächlich zu sein. Ich kann mich an einige Fälle erinnern, wo es mir beim Wareneingang unangenehm war, das Preisetikett auf die Platte zu kleben. Wer soll das denn für den Preis kaufen, habe ich mich gefragt. Nur um dann zu sehen, wie Kund*innen den Release am Samstag vormittag ungerührt auf den Tresen legten und bezahlten.
Profitieren Plattenläden eigentlich vom Record Store Day?
Tatsächlich hat mich diese Frage im Vorfeld des Record Store Days immer wieder erreicht. Im Prinzip beantwortet sich die Frage von selbst: es würden nicht derart viele Läden am Record Store Day teilnehmen, wenn es ihnen keine Vorteile bringt. Aus der Erfahrung der letzten Jahre im Dodo Beach kann ich euch sagen: Sobald die Liste veröffentlicht ist, hagelt es quasi täglich aufgeregte Mails von Kund*innen, ob man diesen oder jenen Release denn auch bekommt. Oder ob man denn nicht doch an den einen Release der US-Liste rankommt. Der Tag selbst ist vom Öffnen der Ladentür Chaos pur. Selbst das Weihnachtsgeschäft ist dagegen im Plattenladen ein Kindergeburtstag.
Die Frage eines Verzichts, wie ihn einige Läden in den vergangenen Jahren ja bereits erklärt haben, hat sich daher für den Dodo Beach nie gestellt. Die Vorteile liegen dabei ja nicht nur im Umsatz begründet, der an diesem Tag (inklusive der anschließenden Onlineverkäufe) manchmal so hoch ist wie sonst in einem kompletten Monat. Die mediale Aufmerksamkeit für den Record Store Day ist in jedem Jahr immens und erschließt einem teilnehmenden Laden oft neue Kund*innen, die dann regelmäßig wieder vorbei schauen. Im Dodo Beach war zudem die Atmosphäre mit Bühne und Bierbänken vor der Tür an diesem Tag immer eine ganz besondere – vor der Coronapandemie zumindest. Natürlich ist dieser Vinylfeiertag stets mit immens viel Aufwand und Stress in Bezug auf die Kommunikation, das Auspacken und Erfassen der Ware oder die Gestaltung des Ladens verbunden… wenn an dem Tag aber Vinylliebhaber*innen freudestrahlend den Laden verlassen, hat sich all dieser Aufwand gelohnt.
Fazit
Grundsätzlich ist der Record Store Day eine schöne Angelegenheit mit einer besonderen Atmosphäre. Aber wie das so oft ist: je größer eine Idee wird, desto fehlerbehafteter ist sie. Und kommerzieller. Ich würde mir zahlreiche Verbesserungen Schrägstrich Veränderungen wünschen, deren Auflistung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Vielleicht widme ich mich dem Thema in naher Zukunft ausführlicher in einem separaten Artikel. Die Kritik an der Qualität der Releases und der Ausgestaltung der Preise finde ich manchmal etwas übertrieben, weil Kund*innen selber entscheiden können, ob sie eine Platte kaufen oder nicht. Ich habe zum Beispiel den Pearl Jam Release im Regal stehen lassen, weil mir der Preis zu hoch war. Das Geld investiere ich lieber in andere Vinyl Schallplatten, denn denkt immer dran: Every Day is Record Store Day!