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Mein (bisheriges) Album des Jahres: Grim104 – Imperium

AKTUELLE ANMERKUNG: Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog vom Dodo Beach Plattenladen erschienen. Da ich dort seit August nicht mehr arbeite, habe ich den Artikel in meinen eigenen Blog übernommen.

Varel. Tiefster Norden. Das Land von „Grünkohl und Klar’m“. Ich stehe in der Weberei, vermutlich mit einem Jever in der Hand. Mit v geschrieben. Das trinkt man hier im Norden. Welches Jahr es ist, kann ich nicht mehr genau sagen. 2005 vielleicht? Oder doch eher 2007? Tut eigentlich auch nicht viel zu Sache.

Normalerweise spielen hier lokale Bands, die im Metalcore-Scrabble haushoch verloren haben. Bands, die sich von 28 Myspace-Freunden (ja, das war damals der heiße Scheiß) den großen Fame erwarten. Doch in diesem Moment steht ein junger – ich würde sagen recht zugekiffter – Mann auf der Bühne, der ziemlich düstere Texte ins Mikrofon rappt. Ich könnte jetzt behaupten, dass ich damals schon wusste, dass aus dem Typen mal was wird. Und zwar ein erfolgreicher Rapper.

15 Jahre später könnte ich mir stolz auf die Schulter klopfen und sagen, dass ich von Anfang an Recht hatte. Denn tatsächlich: mittlerweile hat besagter Moritz Wilken nicht nur einen Platz im Wikipedia-Eintrag seiner Heimatgemeinde Zetel, sondern ist als ein Teil von Zugezogen Maskulin, aber auch solo, ziemlich erfolgreich. Wirklich vorhersehbar war das nicht. Wenn ich mir alleine überlege, wie viele tolle Bands und Künstler*innnen ich begeistert entdeckt und ihr Album in meine Plattensammlung aufgenommen habe, die dann vor einer Handvoll Leuten im Zukunft am Ostkreuz spielen, während mediokre Acts quasi nebenan die Mercedes-Benz-Arena voll machen… Grim104 hat schon damals in einem Artikel für unsere wundervolle Lokalzeitung bekannt gegeben, dass es sein Traum sei von seiner Musik leben zu können. Doch dazu “ ist nicht nur Talent und harte Arbeit, sondern auch viel Glück nötig“, so ein Zitat von ihm. Eine Tatsache, die er auch auf seinem neuen Album anspricht. So rappt er im dritten Track Bam Margera: „Unverwundbar, uns ist klar, dass wir Rapstars werden […] Doch viele haben das nicht geschafft / Und Hades gibt auch kein‘ mehr zurück / Das hat nichts zu tun mit Kraft / Sondern einfach mit Glück.“

Rap für Erwachsene

Ohnehin ist „Imperium“ sehr persönlich geworden. Und ich rede jetzt nicht von „meine-Ex-hat-mir-mein-Herz-gebrochen-persönlich.“ Es geht um untergegangene Dinge und Orte wie die Videothek auf dem Cover, in der man früher Stunden verbracht hat auf der Suche nach der perfekten Abendunterhaltung. Lustig irgendwie, dass kurz nach der Veröffentlichung des Albums auch die letzte Videothek in Berlin ihre Pforten geschlossen hat. Das Ende einer Epoche. Ein weiteres gefallenes Imperium, das sich thematisch durch die Songs zieht. Es geht dabei vor allem ums Älter- und (auch wenn ich den Begriff nicht ausstehen kann) Erwachsenwerden und all die Dinge, die man im Laufe der Zeit verliert und zurück lässt. „Imperium ist Grown-Man-Rap im besten Sinne, Rap von Erwachsenen und für Erwachsene“ heißt es in einer Rezension von Till Wilhelm auf zeit.de. Ab und zu muss ich mir als zugezogener Berliner Single aus der norddeutschen Tiefebene sogar ein Schmunzeln verkneifen, etwa wenn Grim104 mit solchen Songzeilen den Nagel voll auf den Kopf trifft: „Bin ein bisschen zu voll für einen Mann meines Alters // Mein Vater war in mei’m Alter seit 2 Jahren mein Vater // Unsere Freunde aus den Dörfern sind in dem Alter schon Opa // Fahren Go-Kart mit den Enkeln und mit ihren Söhnen Mofa.“  (Track 6, Ü30 Männer im Club).

Sowieso… die Lyrics! Reduziert auf das Wesentliche. Kein Autotune-Schwachsinn, der im Hip Hop ja leider mittlerweile fast dazu gehört. Ich könnte hier dutzende Zeilen aneinander reihen, die im Gehör hängen bleiben. Aber hört es euch einfach selber an. In einer Kritik auf laut.de ist vom „besten Storyteller, den deutscher Rap aktuell zu bieten hat“ die Rede. Dem kann ich nur zustimmen.

Suchtmittel für die Gehörgänge

Mit „Imperium“ vollbringt Grim104 das selbe Kunststück, das ihm bereits mit seiner ersten EP (2014 veröffentlicht) gelungen ist. Die EP ist definitiv meine mit Abstand am meisten gehörte Hip Hop-Scheibe überhaupt. Ketzer werden einwenden, dass ich kaum Hip Hop höre (was tatsächlich der Wahrheit entspricht, in meiner Plattensammlung befinden sich vielleicht ein knappes Dutzend LPs, die dem Genre zuzuorden sind), umso mehr ist es aber ein Kompliment für die Songs von Grim104, das sie sich derart in meinen Gehörgängen festsetzen. Laut statsforspotify.com ist Grims Single „Komm und Sieh“ mein meistgehörter Song der letzten 6 Monate. Auch sonst sind meine Streaming-Gewohnheiten der letzten vier Wochen insgesamt ziemlich einseitig (s. Screenshot links). Grim104 wohin man sieht.

Aber was soll ich auch machen? Im Vergleich zu „Imperium“ entgleist sogar der Hype-Zug mit Kendrick Lamar oder – um im Inlandsverkehr zu bleiben – OG Keemo als Lokführern. Und das will was heißen, denn beides sind echt gute Alben. Sorry für die schlechten Wortspiele, an mir ist wahrlich kein Rapper verloren gegangen. Besser als „Imperium“ wird Hip Hop aber wohl in diesem Jahr nicht mehr. Obwohl es für jedes Album – unabhängig vom Genre – schwer werden dürfte, „Imperium“ noch von der Spitze meiner Jahres-Top10 zu stoßen (Kandidat mit dem größten Potential momentan: das kommende Album von High Vis, das im September erscheint. Hört euch einfach das grandiose „Fever Dream“ an und ihr wisst vielleicht, was ich meine….)

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