Siehste… vor ein paar Wochen habe ich in der Rezension zur grandiosen neuen Platte von Birds In Row noch über Hardcore geschrieben, dass es „zuletzt selten eine Band geschafft [hat], dem Genre neuen Wind zu verleihen“. Knapp einen Monat später kommen nach den Franzosen nun Fjørt um die Ecke und spielen mit ihrer neuen Scheibe alles in Grund und Boden. Hardcore wie er klingen sollte. Tschuldigung, Post-Hardcore heißt das ja mittlerweile.
Wie nicht anders zu erwarten, ist „nichts“ Krach im besten Sinne. In 13 Songs gibt es hier ordentlich was auf die Ohren. Die dreiköpfige Band hat die fünf Jahre Pause seit „Couleur“ genutzt, um nicht nur ein weiteres Album nach dem Erfolgsrezept der Vorgänger aufzunehmen, sondern um ihren Sound zu erweitern. Meine größte Kritik an Hardcore ist oftmals, dass jeder Song schablonenhaft gleich klingt. Austauchbar irgendwie. Nicht so bei Fjørt.
Der Sänger singt jetzt!
In den dreizehn Songs steckt eine Menge Abwechslung. Das beginnt alleine damit, dass Frontmann Chris Hell plötzlich nicht nur wie üblich seine Wut heraus schreit, sondern einige Zeilen – man mag es kaum glauben – tatsächlich singt, was dem Album eine neue Dimension verleiht. Zu Beginn von „fernost“ hat das fast was von Matt Bellamy, während der Refrain von „sfspc“ ein wenig an Casper erinnert, der in diesem Jahr in meinen Ohren übrigens eines der unterschätztesten (deutschsprachigen) Alben heraus gebracht hat. Nur einen Song später stehen in „salz“ eher die wilden Ausbrüche eines Serj Tankian als Vorbild parat, während in „fünfegrade“ ein indiegetränkter Gitarrenteppich verlegt wird.
Bevor ich hier aber jeden einzelnen Song durchgehe, sei erwähnt, dass die Texte kryptisch wie eh und je sind. Hier gibt es keine befindlichkeitsfixerten Lyrics über offensichtliche Gefühle wie Herzschmerz, Trauer oder die Enttäuschungen des Lebens. Keinen Hauptsache-es-reimt-sich-Ansatz. Lyrisch am beeindruckendsten ist in meinen Ohren „kolt“. In dem Song verhandelt die Band in bester Spoken Word-Manier selbstreflektiert die eigene Unfähigkeit und Lähmung, etwas Gutes zu tun, obwohl es Menschen in vielen Teilen der Welt viel schlecht geht als uns hier in Deutchland. Es ist eine Anklage an die eigene Doppelmoral.
„kann zwar texten
und kann schreien.
doch mein beitrag ist blamabel
von der bühne kann ich niemandem
den magen voll machen (…)
ich tue gar nichts
weil es gemütlich ist
hier bei uns.“
Manchmal schießen auch Fjørt mit ihren Wortspielen etwas über das Ziel hinaus (Stichwort: deutsche Sprache, schwere Sprache), wenn es etwa heißt „Wir sind die Creme de la Scheißdrauf“. Das aber ist Jammern auf sehr hohem Niveau. Mit dem abschließenden „lod“ lassen Fjørt einen sprachlos zurück. „nichts“ sind 50 Minuten pure Intensität, die erst mal verarbeitet werden müssen. Am besten, indem man direkt zum Plattenspieler geht und das Album noch einmal abspielt.
„nichts hat mehr Bestand“ -Anfang 2023 geht’s auf Tour
Nach dem durchschlagenden Erfolg von „Ein Tag. Alle Platten“, in dessen Rahmen die Band im August in Hamburg und Köln an einem Tag jeweils vier Konzerte in verschiedenen Clubs gespielt hat, um alle ihre Alben zu performen, folgt Anfang 2023 die Tour zum aktuellen Album. Im Januar und Februar spielt die Band 15 Termine im Rahmen der „nichts hat mehr bestand“-Tour. Tickets gibt es u.a. im Ticketshop des Veranstalters, aber natürlich auch an jeder regulären Vorverkaufsstelle.
Ich habe Fjørt 2014 im Musik & Frieden gesehen und – wenn ich mich recht erinnere – 2016 im Privatblub mit We Never Learned To Live als Vorband. Auch wenn die Venues dieses Mal etwas größer sind (in Berlin spielt die Band im Metropol), sollte man sich die unfassbare Liveenergie der Band nicht entgehen lassen.
Vinyl der Woche: reguläre LP oder 7″ Boxset?
Wer sich die Vinyl der Woche besorgen möchte steht vor der Wahl zwischen der regulären LP (schwarzes Vinyl) oder einem Boxset, das aus sechs Seven Inches besteht. Das macht natürlich nicht nur preislich einen Unterschied, sondern beim Hören muss man mehrmals aufstehen und die Vinyl umdrehen, um die Platte in Gänze zu genießen. Ich finde so was ja immer eher anstrengend, aber die Box ist schon echt schick geworden. Beides sollte es ganz normal im Plattenladen zu kaufen geben. Die limitierte Variante auf rotem Vinyl, die es lediglich direkt beim Label Grand Hotel van Cleef zu erwerben gab, ist mittlerweile anscheinend ausverkauft.
vinyl der woche