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Neuheitenregal im Plattenladen

Die Jahrescharts 2017: Der Vinylboom und die Nachteile für den Plattenladen

Neben den Jahrescharts der verschiedenen Musikmagazine und Blogs trudeln jetzt auch langsam die Verkaufszahlen des vergangenen Jahres ein. Wirklich relevant sind für mich dabei lediglich die Vinylcharts. Die Tatsache, dass Helene Fischer die allgemeinen deutschen Albumcharts im sonst wie vielten Jahr in Folge anführt, ist auch so schon erschreckend genug. Fest steht nach Auswertung der Zahlen für 2017, dass der Vinylboom ungebrochen weiter geht – auch wenn davon nicht unbedingt die Plattenläden profitieren.

Rekorde in USA und UK – Vinyl weiter auf dem aufsteigenden Ast

In den USA sind im vergangenen Jahr mehr als 14 Mio. Alben auf Vinyl verkauft worden – das sind 9% mehr als im Vorjahr und der höchste Wert seit 12 Jahren. In diesem Zeitraum haben sich die Vinyl Verkaufszahlen jährlich gesteigert und machen mittlerweile immerhin 14 Prozent der physischen Albumverkäufe aus. Genretechnisch fallen die meisten Alben unter Rockmusik, das anscheinend 67% der Verkäufe ausmacht, wobei ich mich durchaus frage, wie Rockmusik eigentlich konkret definiert wird. Aber egal…

Auffällig ist, dass es sich bei sieben der zehn Top10 Alben um Reissues handelt – mit den Beatles an den beiden Toppositionen. Ein Trend, der von den Vinyl Verkaufszahlen in Großbritannien bestätigt wird. Hier sammeln sich unter den Top20 der Jahrescharts ganze 14 Reissues.

In UK hat sich der Verkauf von Vinyl gegenüber dem Vorjahr sogar um knapp 26% gesteigert. Etwas mehr als vier Millionen Schallplatten sind dabei über den Ladentisch gegangen. Erfolgreichstes Album war dabei faszinierenderweise Edward Sheeran’s „Divide“. Gefolgt von Liam Gallagher’s erstem Soloalbum, das mit 16.000 verkauften Exemplaren in der ersten Woche den Rekord für das schnellstverkaufte Vinylalbum seit 25 Jahren aufgestellt hat.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Vinyl Charts in Deutschland von zwei einheimischen Bands beherrscht werden: Die Toten Hosen und Rammstein (s. Liste unten).

Altherrenrock im Media Markt – wer kauft eigentlich wo Vinyl?

Ich habe oben schon geschrieben, dass ein Großteil der Bestseller Reissues sind, also Neuauflagen von Alben, die in der Regel bereits einige Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Wenn man sich die deutschen Vinylcharts anschaut, fällt auf, dass dort weitaus weniger Reissues vertreten sind, dafür aber neue Alben von alteingessenen Künstlern wie Depeche Mode, U2, Rolling Stones oder Deep Purple. Allesamt Bands, die bereits weit mehr als zehn Alben veröffentlicht haben.

Heißt im Klartext, dass all jene älteren Damen und Herren (nicht böse gemeint), die mit Vinyl als primärem Musikformat aufgewachsen sind, auch heutzutage wieder in Massen LPs kaufen. Nur was ist eigentlich mit der so hippen jungen Zielgruppe, die doch angeblich voll auf Vinyl abfährt? Kaufen die etwa alle nur Reissues von dem, was sie in Papas Plattensammlung gefunden haben? Oder wo ist in den Vinylcharts zeitgenössische Musik von gefeierten Indie und Hip Hop Acts wie Kendrick Lamar, The National, Queens Of The Stone Age oder meinetwegen Kettcar, um lokal zu bleiben?

Wenn ich hier mal aus der Perspektive von Dodo Beach schreiben darf: Die zuletzt genannten Bands dominieren bei uns die Jahrescharts und mit der Neuauflage von OK Computer ist in unseren Top10 lediglich ein Reissue vertreten. Die immense Diskrepanz zwischen unseren eigenen Charts und den allgemeinen Vinylcharts ist unübersehbar. Mit Ausnahme von Liam Gallagher, der es in unseren Jahrescharts gerade so auf Platz 10 geschafft hat, ist keines der Alben aus unseren Jahres-Top10 in den allgemeinen Vinylcharts vertreten. Bei allen anderen Plattenläden, die ich ab und zu besuche oder online verfolge, sieht das ähnlich aus. Wir verkaufen sicherlich auch das ein oder andere Reissue, aber von so einer Sgt. Peppers LP gehen im Jahr vielleicht ein Dutzend Exemplare über den Ladentisch. Da fragt man sich schon, wo genau die 70.000 Exemplare der Sgt. Pepper’s in den USA eigentlich gekauft worden sind.

Und genau an dieser Stelle zeigt sich – so paradox das zunächst klingen mag – der Nachteil des Vinylbooms für die Plattenläden. Denn auch große Ketten wie Media Markt und Saturn, hippe Fashionboutiquen wie Urban Outfitters oder sogar Drogeriemärkte wie Müller haben das Potential von Vinyl mittlerweile erkannt und wollen ihren Teil vom Kuchen abhaben (von Amazon und Co. online ganz zu schweigen). Leider gibt es keine Statistiken darüber, wo die Leute ihre Schallplatten kaufen, doch da Vinyl mittlerweile fast überall erhältlich ist, wird ein Großteil eben nicht mehr im Plattenladen gekauft.

Ausdruck dieser Entwicklung ist u.a., dass es vor kurzem erstmal eigene Pressungen auf farbigem Vinyl exklusiv bei Media Markt und Saturn zu kaufen gab. Von Künstlern wie Tocotronic, Mando Diao, Nightwish oder Lana Del Rey. Das neue Album von Justin Timberlake, das am 2. Februar erscheinen soll, gibt es bei Target in einer exklusiven Pressung auf translucent orange Vinyl. Wer mit dem Namen nichts anfangen kann: Target ist laut Wikipedia „nach Wal-Mart der zweitgrößte Discounteinzelhändler“ der USA, vergleichbar mit Kaufland oder real.

Den Plattenläden bleibt nichts anderes übrig als weiterhin die Nische zu suchen. Jene Kundengruppe zu erschließen, die wenig mit dem musikalischen Mainstream anfangen kann, ohne an dieser Stelle einem Ed Sheeran-Käufer zu nahe treten zu wollen. Wenn ich mir anschaue wie viel obskures Zeug hier im Laden über den Tresen geht, von dem ich noch nie irgendwas gehört habe – unfassbar! Von daher mache ich mir über die Zukunft der Institution Plattenladen im Moment wenig Sorgen, auch wenn es trotz Vinylbooms sicherlich nicht immer einfach wird.

Die meistverkauften Schallplatten in Deutschland 2017:

1. Die Toten Hosen – Laune der Natur
2. Rammstein – Paris
3. Beatles – Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band
4. David Gilmour – Live At Pompeii
5. Depeche Mode – Spirit
6. U2 -Songs Of Experience
7. Ed Sheeran – ÷
8. The Rolling Stones – Blue & Lonesome
9. Deep Purple – Infinite
10. Roger Waters – Is This The Life We Really Want?

Die meistverkauften Schallplatten in den USA 2017:

1. Beatles – Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club (72.000 Exemplare)
2. Beatles – Abbey Road (66.000 Exemplare)
3. Guardians Of The Galaxy – Awesome Mix 1 Soundtrack – (62.000 Exemplare)
4. Ed Sheeran – Divide – (62.000 Exemplare)
5. Amy Winehouse – Back To Black – (58.000 Exemplare)
6. Prince – Purple Rain – (58.000 Exemplare)
7. Bob Marley & The Wailers – Legend – (56.000 Exemplare)
8. Pink Floyd – Dark Side Of The Moon – (54.000 Exemplare)
9. Soundtrack – La La Land – (49.000 Exemplare)
10. Michael Jackson – Thriller – (49.000 Exemplare)

Die meistverkauften Schallplatten in Großbritannien 2017:

1. Ed Sheeran – ÷
2. Liam Gallagher – As You Were
3. Fleetwood Mac – Rumours
4. Guardians Of The Galaxy – Awesome Mix 1 Original Soundtrack
5. Amy Winehouse – Back To Black
6. Rag’N’Bone Man – Human
7. Pink Floyd – The Dark Side Of The Moon
8. Beatles – Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band
9. Oasis – What’s The Story Morning Glory
10. David Bowie – Legacy
11. Radiohead – OK Computer
12. Bob Marley & The Wailers – Legend
13. Noel Gallagher’s High Flying – Who Built The Moon
14. Stone Roses – The Stone Roses
15. Nirvana – Nevermind
16. Beatles – Abbey Road
17. Queen – Greatest Hits
18. Nirvana – Unplugged in New York
19. Guardians Of The Galaxy – Awesome Mix 2 Original Soundtrack
20. David Bowie – The Rise and Fall of Ziggy Stardust

  1. sehr schön analysiert, danke 🙂 Ja ich bin gespannt wo es hingeht mit dem „Vinyl Boom“ Irgendwann haben die ganzen „Rock-Opa’s“ sich ihre Evergreens alle erneut gekauft, vielleicht gehen die Verkaufszahlen dann wieder nach untern…

  2. Danke für Deine Beiträge! Schön, dass Du wieder da bist!

    Ich kaufe lieber die alten Platten der Rock Opa’s im Second Hand, wo sie sie ja abegeben haben für einen Bruchteil des Reissue’s.
    Ist mir sowieso ein Rätsel wie die Leute so viel Geld der Plattenindustrie in den Rachen schieben.
    Bei neuen Sachen ist immer das Problem des Marktes. Hier in Bonn gibt es neben eines Gebraucht Plattenladen nur noch MediaMarkt. Und da findest du i.d.R. nur Sch……!
    Also bleibt nur das www wenn Du gute Sachen kaufen möchtest, oder halt DiscOgs.

  3. Danke für den erleuchtenden Text. Dass die Mainstream-Sachen, egal ob Rock, Pop oder Reissue, nicht im Indie-Fachhandel über die Ladentheke gehen, ist ja nicht neu. In den 80ern haben Michael Jackson und Bananarama – oder eben auch Rolling Stones und Deep Purple – doch sicher auch mehr Exemplare bei Karstadt umgesetzt als beim freundlichen Fachhändler um die Ecke?

  4. Aus meiner Sicht wird hier ein wichtiger Aspekt vernachlässigt, der zum vermehrten Plattenkauf bei Onlinehändlern führt: die Qualität von Neuerscheinungen. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus sind ca. 7 von 10 Neuerscheinungen (unabhängig davon, ob Reissue oder initiale VÖ) mangelhaft: Höhenschlag, Kratzer, Schlieren, Störgeräusche, Pressrückstände, zu klein gestanzte Mittellöcher, unzentrierte Labels usw. Das hat es in der Hochphase der LP so nicht gegeben. Der geneigte Plattenkäufer weiss also, dass er ggf. bei 70% seiner neuen Käufe zurück in den Laden rennen und mit dem Verkäufer „verhandeln“ muss. Bei weitem nicht jeder Fachhändler vor Ort tauscht problemlos um. Bei den großen Onlinehändlern hingegen gibt es kein Diskutieren und demnach keinen Ärger: Platte fehlerhaft? Return to sender und darauf hoffen, dass die folgende Kopie besser aussieht. Ich denke, die heutige Qualität hat erheblichen Einfluss auf die Entscheidung, wo ich meine Platten kaufe. Es ist wie so oft der Weg des geringsten Widerstands.

  5. Danke für den Bericht.
    Was würde ich drum geben, wenn wir hier wieder einen richtigen Vinylladen hätten. In so einem hab ich auch mal gearbeitet.
    So bleibt halt nur Media Markt.

  6. Reissues brauch ich wenig, da ich durchgängig Vinyl gekauft habe, vor allem bei jpc, die die Vinyl-Flagge immer hoch gehalten haben. Daneben noch im Indie-Laden, HighEnd-Studios oder 2nd-Hand-Laden mit Neuware. Die Saturns versuche ich zu vermeiden, da diese für den Niedergang der Platten- und Hifi-Läden verantwortlich waren. Der Elephant merkt sich das.

  7. Zur Ehrenrettung von Saturn: in Köln hat Anfang der 80 er der Laden mit 500.000 Lps eröffnet. Die Auswahl war breiter als bei Amazon Unlimited (gefühlt) und die Kunden kamen mit Vierachsern aus Oberbayern. Es war zum Niederknien. Japan-Importe, die man anspielen konnte. Verkäufer, die was wussten. Ich stand da, wie der Esel vor den zwei Heuhaufen. M.E. waren die Läden mit der Notwendigkeit, das Programm sowohl als CD als auch als LP zu bevorraten, überfordert.
    Der Versandhandel entwickelte sich mehr als ein Jahrzehnt vor dem Internet und lieferte per Post. Streaming ist billig, bequem und die Qualität ist ausreichend. Das Album ist tot, die Sammlung ist tot. Die Playlist ist die Wiedergeburt des Tapes.

  8. Laut Discogs gab im Jahr 2017 46.801 verschiedene Veröffentlichungen aus Vinyl-LP, wobei nur ein verschwindend geringer Teil davon in den Vinyl-Charts überhaupt ein Thema sein dürfte.

    Bei den meisten Veröffentlichungen handelt es sich um Kleinstauflagen von eher unbekannten Bands. Diese Veröffentlichungen werden bei Live-Auftritten am Merchandising-Stand angeboten, über Plattformen wie Bandcamp von den Künstlern selbst vermarktet, aber finden ihren Platz auch in alternativen Plattenläden.

    Ich vermute, dass die jüngeren Vinyl-Liebhaber einfach einen ganz anderen Zugang zur Musik haben und weniger darauf aus sind, unbedingt Veröffentlichungen von besonders erfolgreichen Bands zu kaufen; stattdessen werden mehr unterschiedliche Releases gekauft, aber kaum etwas davon so häufig, dass es in den Charts ein Thema ist.

    Früher gab es wenige Radiosender und wenige Fachzeitschriften. Heute gibt es Livestreams, Blogs und diverse Internet-Portale, auf denen Künstler ihre Werke präsentieren können. Dadurch finden auch Werke einen Zugang zu ihren potenziellen Hörern, für die früher in den Medien einfach kein Platz vorhanden war.

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